Wladimir Putin ist der endgültige Grabträger der „Russischen Welt“

Ein Wandrer kam aus einem alten Land, / Und sprach: „Ein riesig Trümmerbild von Stein / Steht in der Wüste, rumpflos Bein an Bein, / Das Haupt daneben, halb verdeckt vom Sand. / Der Züge Trotz belehrt uns: wohl verstand / Der Bildner, jenes eitlen Hohnes Schein / Zu lesen, der in todten Stoff hinein / Geprägt den Stempel seiner ehrnen Hand. / Und auf dem Sockel steht die Schrift: ‚Mein Name / Ist Osymandias, aller Kön’ge König: – / Seht meine Werke, Mächt’ge, und erbebt!‘ / Nichts weiter blieb. Ein Bild von düstrem Grame, / Dehnt um die Trümmer endlos, kahl, eintönig / Die Wüste sich, die den Koloß begräbt.“ „Osymandias“, Percy Bysshe Shelley (in Übersetzung von Adolf Strodtmann 1866)
Entgegen den in den Köpfen russischer Entscheidungsträger schwirrenden Feindbildern und Verschwörungstheorien scheiterte Russlands anmaßender Anspruch auf eine eigene regionale Einflusssphäre an der Unfähigkeit Moskaus – die durch wirtschaftliche Hard Power unterlegte – kulturell-ideologische Anziehungskraft zu entfalten.
Mangel an Soft Power durch Brutalität kompensiert
Die ausgeprägte Schwäche Moskaus auf der kulturell-ideologischen Ebene – die sogenannte Soft Power – erweist sich als die eigentliche Achilles-Ferse der Russischen Föderation. Trotz des in Theorie im ausreichenden Maße vorhandenen Potentials gelingt es Russland seit über drei Jahrzehnten selbst im postsowjetischen Raum nur äußerst begrenzt, die eigene kulturelle Attraktivität ansprechend zu gestalten. Letztlich wird der hegemoniale Führungsanspruch im postsowjetischen Raum von Moskau ausschließlich durch militärische, energiepolitische und wirtschaftliche Hard Power im Sinne des Prinzips „Dominieren durch Angst“ ausgeübt. Der brutale Angriffskrieg gegen die Ukraine bildet eine eindrucksvolle Bestätigung dieser These. Nach dem faktisch gescheiterten Angriffskrieg gegen die Ukraine ist Russland seines bisher einzigen äußerst effektiven Trumpfes beraubt – der Drohung mit dem Einsatz militärischer Macht. In Zukunft ist es kaum vorstellbar, dass jemand Russlands Militärdrohgebärden ernst nimmt.
Postsowjetischer Raum: Kontrollverlust auf Raten
Im postsowjetischen Raum wirkt Russland noch nicht einmal mehr ansatzweise so selbstsicher und einflussstark wie noch vor Beginn der Invasion am 24. Februar 2022. Die Handlungsoptionen Moskaus werden zunehmend geringer, und selbst die – extrem unwahrscheinlichen – militärischen Erfolge im Angriffskrieg gegen die Ukraine werden mittlerweile daran kaum etwas zu ändern vermögen.
Im Südkaukasus wächst der Einfluss der Türkei auf Kosten Russlands erheblich an. In Zentralasien legt der traditionelle Verbündete Moskaus Kasachstan eine kritisch-selbstbewusste Haltung an den Tag, nutzt die selbstverschuldeten Schwächen Moskaus diplomatisch gekonnt aus und fordert vom großen Nachbarn im Norden de facto eine Partnerschaft auf Augenhöhe ein. Die Republik Moldau distanzierte sich nach einer anfänglichen Unsicherheitsphase nachdrücklicher als jemals in der Vergangenheit von Russland. Und selbst in Belarus gilt es das verzweifelt wirkende Lavieren des selbst proklamierten belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko zu beachten. Seit Beginn der sogenannten „Spezialmilitäroperation“ gegen die Ukraine gelingt es Minsk erfolgreich, eine direkte militärische Konfliktinvolvierung belarusischer Streitkräfte abzuwehren; dies ungeachtet des enormen politischen und wirtschaftlichen Druckes vonseiten Moskaus, des immensen wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses und mit Blick auf das repressiv-diktatorische Regime Lukaschenkos fehlender Alternativen.
Ein System ideologischer Flexibilität
Die Überkonzentration auf die Vereinigten Staaten im außenpolitischen Diskurs offenbart Charakteristika eines postkolonialen Traumas und enthüllt den eigentlichen Kern des heutigen Russlands als nur einer von 15 Nachfolgerepubliken der Sowjetunion in einem zerfallenden postimperialen Raum.
Viele der Probleme, welche die ehemaligen Republiken der Sowjetunion aufweisen, lassen sich auch in der Russischen Föderation, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, wiederfinden. Einen zentralen Punkt stellen dabei der nur in Ansätzen erfolgte Prozess des Nation Building und die vage, ja amorphe Vorstellung über die nationale Identität Russlands dar. Doch während einige der ehemaligen Teilrepubliken der Sowjetunion den Weg in die Moderne inklusive einer generationellen Elitenerneuerung ungeachtet aller Schwierigkeiten zu gehen versuchen, scheint in Russland die Zeit stehengeblieben zu sein, ja die Fortschrittsuhr zunehmend schneller zurückgedreht zu werden.
Die längste Zeit scheiterte Russlands Suche nach einer integralen nationalen Identität an der ideologischen Flexibilität Wladimir Putins. Denn für ein gelingendes taktisches Agieren sowie erfolgreiche Kontrolle über die Eliten und die Gesellschaft war die ideologische Pantophagie des Kremls eine Grundvoraussetzung. Wie ein führender russischer Soziologe, Grigorij Judin, anmerkt, lässt sich eine hochgradig apolitische und passive, in einzelne Individuen atomisierte Bevölkerung ungleich einfacher kontrollieren als eine ideologisierte und aktive Gesellschaft; wie das Beispiel der späten Sowjetunion zeigt. Die russische Führung war stets bereit, jede noch so absurde und radikale ideologische Strömung zu unterstützen und dadurch zu kontrollieren. Die einzige Ausnahme von dieser Grundregel bildeten revolutionsaffine Bewegungen; dies aufgrund der Angst russischer Führung vor einem gewaltsamen – in der von unzähligen Verschwörungsmythen beseelten Erfahrungswelt der Kremleliten – von außen gesteuerten Machtwechsel. Aus diesem Grunde schießt die Bezeichnung des Machtsystems Putin als ein faschistisches System über das Ziel hinaus. Auch die Außenpolitik Russlands war die längste Zeit über interessengeleitet, zynisch, ideologisch flexibel und – wie der Blick auf die russische Vorstellung der Multipolarität zeigt – alles andere als idealistisch. Letzteres änderte sich aber.
Putins idealistische Selbstverblendung
Die ideologische Flexibilität Wladimir Putins wurde – wohl auch unter dem Pandemie-bedingten Isolierungsdruck der vergangenen zwei Jahre – vom Gedanken der eigenen historischen Mission überschattet. Das sich oftmals ab- und jenseits historischer Faktenlage bewegende Geschichtsbild Wladimir Putins trat beim Gespräch mit jungen russischen Unternehmern und Wissenschaftlern im Vorfeld des Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforums öffentlichkeitswirksam zutage. In der Gleichsetzung seiner Person mit Peter dem Großen offenbarte sich die Überzeugung des russischen Präsidenten vom Gedanken des eigenen historischen Auserwähltseins. In diese Missionsidee vertieft, krönt sich Putin – darin Napoleon Bonaparte gleichend – gleichsam selbst zum „rechtmäßigen“ quasi-monarchischen Herrscher ganz Russlands. Wirklich überraschend ist Putins Besessenheit mit dem imperialen Traum vom Russischen Reich gegen die Ukraine freilich nicht.
Ein zentrales Element dieses imperialen politischen Bewusstseins bildet ein durch handausgewählte geschichtliche Fakten begründeter Missionsgedanke des sogenannten „Sammeln russischer Erde“. Ursprünglich stand dieser Begriff für die räumliche Ausdehnung des Herrschaftsbereiches des Großfürstentums Moskau durch Eroberung und Eingliederung der Gebiete des unter dem Ansturm der Mongolen im 13. Jahrhundert zerfallenen mittelalterlichen altostslawischen Großreiches Kiewer Rus, dem historischen protostaatlichen Vorläufer der drei ostslawischen Staaten – Belarus, Russlands und der Ukraine. Insofern geht die Argumentationslinie, wonach Russland ohnehin über genug Landmasse verfügt und keine weiteren Expansionen bedarf, weit am eigentlichen Thema vorbei. Jewgenij Anisimow, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg und führender Historiker der Petrinischen Epoche Russlands, attestiert im Interview mit Novaya Gazeta.Europe der Vorstellung des Raumes eine besondere im Rahmen des russischen politisch-historischen Bewusstseins am meisten wertgeschätzte Bedeutung. Demnach hat die räumliche Ausdehnung Russlands für die Politik und Bevölkerung einen Selbstwert an sich. Denn allein die Tatsache, dass das Land so riesig ist, stellt bereits einen gewichtigen Grund zum Nationalstolz dar.
Der lange Abgesang des letzten europäischen Imperiums
Unabhängig vom weiteren Verlauf des Ukrainekrieges ist der imperiale Traum Russlands von der Einigung der sogenannten „Russischen Welt“ ausgeträumt. Putin trat zwar als später Geburtshelfer der „Russischen Welt“ auf, stellte sich jedoch als ihr endgültiger Grabträger heraus. Das letzte imperiale Aufbäumen des letzten europäischen Imperiums zerbarst in tausend Splitter, doch der lange Abgesang wird noch eine Zeitlang nicht verklingen.
Wladimir Putins politisches Vermächtnis hätte das Wiedererstarken Russlands als einer innenpolitisch stabilen sowie regional dominierenden und global respektierten Großmacht sein sollen, retrospektiv betrachtet wird Putins politisches Erbe in die Geschichtsbücher aber als der endgültige, sang- und klanglose Untergang imperialer Bestrebungen Russlands und der Beginn und die eigentliche Initialzündung einer längeren Periode innerer Destabilisierung Russlands mit aktuell kaum absehbaren Folgen eingehen.
Wladimir der Große versus Wladimir der Vergifter der Unterhosen
Den Weg in den Abgrund der kommenden Systemkrise hat Wladimir Putin eigenhändig geebnet. Mehr als zwei Jahrzehnte lang galt die Idee der Stabilität von Putins Russland als oberstes – um jeden Preis zu verteidigendes – Gut, ja, als das zentrale identitätsstiftende Element: das Fundament des modernen russischen Staates. Dieses – mühselig aufgerichtete und unverrückbar scheinende – Fundament der innenpolitischen (sowie auch der außen- und regionalpolitischen) Rechtfertigung des Machtsystems Putins hat die russische Führung bei vollem Bewusstsein und ohne Not innerhalb von nur wenigen Wochen abgetragen. Die internationalen Sanktionen werden dazu führen, dass die allerletzten Reste der einstigen sozialen Stabilität in den Untiefen der Erinnerung verschwinden werden.
Putin hat mit seiner – vom objektiven Standpunkt kaum als rational zu betrachtenden – Entscheidung, die Ukraine zu überfallen, die Chance endgültig verspielt, als einer der zentralen Herrscher Russlands in die Annalen der Geschichte seines Landes aufgenommen zu werden. Freilich wird Wladimir Putin nach über 20 Jahren im Zenit der Macht in den Geschichtsbüchern Russlands einen Platz finden. Doch angesichts der – von Putin verschuldeten – auf Russland mit bedrohlich-unentrinnbarer Schärfe heranrückenden wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche könnten sich letzten Endes die Worte Aleksej Nawalnys, welche er bei seinem kafkaesk inszenierten Gerichtsprozess im Februar 2021 sprach, als geradezu prophetisch erweisen. Anstatt seinem Traum folgend, als Wladimir der Große gefeiert zu werden, werden die zukünftigen Generationen Herrn Putin als – Wladimir der Vergifter der Unterhosen – gedenken.
Russische Föderation als Schrödingers Imperium
Bei aller berechtigten Kritik an Wladimir Putin sollte dennoch keinesfalls übersehen werden, dass Wladimir Putin zwar die Schlüsselperson, jedoch nicht der einzige außenpolitische Akteur Russlands ist. Die außenpolitischen Handlungen Russlands werden von Interessen und Bedrohungsperzeptionen getragen, die eine breite Zustimmung und Unterstützung innerhalb der Führungselite finden. Den Kern des außenpolitischen Konsenses bildet dabei die Überzeugung von Russland als einem starken, handlungsfähigen Staat im Innenverhältnis und einer souveränen – auf imperialistischen Traditionen beruhenden – Großmacht im Außenverhältnis; einer Großmacht auf Augenhöhe mit den anderen Großmächten. Dabei ist das russische Großmachtdenken nicht mit dem (Ethno-)Nationalismus zwingend gleichzusetzen und gründet auf einem breiten innerelitären Konsens, welcher durch ein kohärentes und konsistentes Verständnis der sicherheitspolitischen Ziele und Bedrohungen ergänzt wird.
Im Selbstverständnis russischer Eliten kann das Land ausschließlich als Großmacht existieren. Hierin Schrödingers Katze nicht unähnlich: Denn sollte die Frage nach Sinn und Existenz des Großmachtstatus einmal tatsächlich gestellt werden, ist es das Ende Russlands, wie wir es kennen. Das Warten darauf dürfte allerdings kurz- bis mittelfristig vergebens sein. Schließlich sollte nicht übersehen werden, dass sich der Elitenkonsens hinsichtlich außenpolitischer Zielsetzungen sowie des Großmachtstatus Russlands bereits gegen Ende der Amtszeit des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin zu formieren beginnt, in der Ära von Wladimir Putin endgültig festigt und auch die Person Putin überdauern dürfte.
Doch selbst ein – aus heutiger Sicht nicht absehbares – zeitnahes Ende der Ära Putin wird keine unmittelbare Antwort auf die unentrinnbare Schärfe der Gretchenfrage nach den politischen Zukunftsmodellen in Bezug auf die russisch-ukrainischen Beziehungen, nach einem neuen Modus vivendi für das EU-Russland-Verhältnis sowie letztlich nach der Zukunft Russlands liefern und für zahlreiche weitere Bruchlinien sowohl innerhalb russischer Eliten- und Bürokratiekreise als auch in der Bevölkerung sorgen.
Die innerelitären Konflikte, die systeminhärenten Zwänge sowie das zwanghafte Festhalten am Großmachtstatus machen nicht nur eine demokratisch legitimierte und geordnet ablaufende Machtübergabe so gut wie unmöglich, sondern bilden vielmehr eine unentrinnbare Garantie für die kommende tiefe Systemkrise mit ungewissem Ausgang nicht nur für Russland, sondern für das gesamte Europa.