Wildpoldsried: Das bayerische Dorf, das Putins Gas nicht braucht


  • Matthias Schneider

    VonMatthias Schneider

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Das Dorf Wildpoldsried im Landkreis Oberallgäu produziert mehr grünen Strom, als es benötigt – und die Bürger verdienen daran. Ein Besuch.

Wildpoldsried – Elf Windräder drehen sich auf dem Höhenzug. Die großen Rotoren sind ein Blickfang. Man erkennt sie auf mehrere Kilometer Entfernung – eine für Bayern außergewöhnliche Häufung. Im Tal zwischen den saftig grünen Hügeln liegt das 2500-Seelen-Dorf Wildpoldsried. Auf den Dächern glitzern Photovoltaikanlagen, hinter der Gemeinde erstreckt sich ein unverbautes Alpenpanorama.

Es ist ein heißer Sommertag, an dem die Bundesrepublik zittert, weil Russland immer weniger Gas liefert. In Wildpoldsried im Landkreis Oberallgäu, nur zehn Kilometer von Kempten entfernt, kann der Winter kommen – das Dorf braucht Putins Gas nicht mehr. „Wind und Sonne sind kostenlos, für diese Erkenntnis braucht es keine besondere Begabung“, sagt Wendelin Einsiedler. Der 66-jährige Allgäuer sitzt im Arbeitszimmer seines abgelegenen Hofes oberhalb des Dorfes.

Wie Wildpoldsried zu seinen Windrädern kam

Auf dem bewaldeten Hügel hinter Einsiedlers Hof drehen sich die Rotoren im kräftigen Wind, der über den Kamm weht. Dieses Potenzial wollte der Landwirt schon vor knapp 30 Jahren erschließen: „Ich habe 1999 im Gemeindeblatt zu einer Info-Veranstaltung eingeladen. Am Ende haben sich dann 30 Mutige zu einer Bürgergesellschaft zusammengeschlossen.“ Die 30 Gesellschafter haben ein Viertel des Kapitals zusammengetragen und den Rest von der Bank geliehen. „Die Gemeinde war positiv eingestellt, die Genehmigung relativ schnell erteilt“, erzählt Einsiedler.

Ein Windrad war ihm nicht genug: Über die Jahre hat er immer weiter geworben, neue Bürgergesellschaften gegründet, neue Windräder gebaut. „Insgesamt betreibe ich jetzt 18 Windräder in zehn Bürgergesellschaften.“ Die Nachfrage der Bürger nach einer Beteiligung ist so groß, dass die Einlagen gedeckelt werden mussten: „Aktuell haben wir 5000 Euro festgelegt, damit auch Kleinanleger eine Chance haben.“

Wendelin Einsiedler ist Geschäftsführer von zehn Bürgergesellschaften, die Windräder betreiben. Und er nutzt Gülle und Grünschnitt für Biogas. 

© Schneider

Gerade denkt Einsiedler über ein Finanzierungsmodell nach: „Es sollen auch junge Leute vor Ort auf Darlehensbasis investieren können“, sagt der Landwirt. Einzige Bedingung: Man muss Gemeindebürger sein. Die Investition lohnt sich seit 2021 besonders kräftig: „Wir zahlen derzeit einmal im Quartal Gewinne aus, damit wir kein Aufbewahrungsentgelt zahlen müssen“, erklärt Wendelin Einsiedler mit einem breiten Grinsen. „Meine Gesellschafter sind hochzufrieden.“

Gaskrise: Die Wildpoldsrieder können ihren Strom jetzt teuer verkaufen

Denn seit Anfang 2021 ziehen die am Gaspreis orientierten Strompreise steil nach oben. Über einen Vermarkter können die Wildpoldsrieder ihren Strom teuer verkaufen. „Früher waren auf dem Markt für den Strom nur drei bis fünf Cent zu erzielen. Investition und Betrieb einer Windkraftanlage waren nur durch die EEG-Umlage möglich“, sagt Einsiedler. „Diesen Juni haben wir an der Börse 19 Cent bekommen – an der Rentabilität fehlt sich aktuell gar nichts.“

Die Förderung habe in der aktuellen Krise Schlimmeres verhindert: „Dank der EEG-Umlage haben wir in Deutschland wenigstens 50 Prozent grünen Strom. Es hätten aber auch 80 Prozent sein können, hätte man den Ausbau die letzten Jahre nicht blockiert.“

„Andere Kommunen hätten auch gute Flächen für Windräder. Da hieß es dann oft: Wollen wir nicht, brauchen wir nicht.“

Wendelin Einsiedler, Chef von zehn Windrad-Bürgergesellschaften

Während der „Strompapst“ bei den Windkraftgesellschaften als Geschäftsführer fungiert, betreibt er selbst eine Biogasanlage mit einem angeschlossenen Kraftwerk: „Wir sammeln Gülle und Grünschnitt von 50 Bauern, verarbeiten es zu Biogas und fahren die Nährstoffe wieder zu ihnen aufs Feld – das finden sie natürlich gut“, erklärt Einsiedler.

Auch das Problem der Umweltbelastung durch zu viel Nitrat aus der Gülle hat er in den Griff bekommen: „Ich habe eine Düngemittelanlage gebaut, die aus biologischem mineralischen Dünger macht.“ Die Anlage habe zwar rund eine Million Euro gekostet, rentiere sich inzwischen aber: „Mineralischen Dünger kann man unbegrenzt ausbringen – und zur Not verkaufen.“ Denn normalerweise wird synthetischer Dünger mit Gas erzeugt, die Marktpreise sind also gerade sehr hoch.

Auch in Wildpoldsried steigen die Heizkosten – aber weniger drastisch

Der Strom aus der Biogasanlage kann abgerufen werden, wenn der Wind nicht weht und die Marktpreise hoch sind. Bei der Stromerzeugung entsteht Wärme, die Einsiedler über Wasserleitungen an rund 30 Kunden in der Umgebung vertreibt. Außerdem gibt es eine knapp fünf Kilometer lange Gasleitung in den Hauptort Wildpoldsried.

Dort speist das Biogas zwei Blockheizkraftwerke, wie Susi Zengerle erklärt. Sie ist bei der Gemeinde Wildpoldsried für Energie und Klimaschutz zuständig: „Ab 2005 haben wir das Wärmenetz mit einer Pelletheizung betrieben. Seit 2011 haben wir dann zu etwa 90 Prozent die Abwärme von Wendelin Einsiedlers Kraftwerken nutzen können.“

Insgesamt 79 Anschlüsse werden so versorgt, darunter Schule, Kindergarten, Rathaus, Seniorenheim, Gewerbeeinheiten und Privatwohnungen. „Das hat brutto rund 5,5 Cent pro Kilowattstunde gekostet, war also relativ günstig“, sagt Zengerle. Wegen der hohen Nachfrage wurde das Netz stetig erweitert, wodurch die Pelletheizung wieder stärker genutzt wurde. Das hat gut funktioniert, bis die Nachfrage wegen der aktuellen Energiekrise explodierte: „Früher haben wir Pellets für 140 Euro die Tonne eingekauft, jetzt sind es 500, manche erwarten 700 Euro“, sagt Zengerle.

Damit werden sich die Betriebskosten erhöhen: „Wir erwarten eine Verdoppelung der Heizkosten“. Doch das ist immer noch weit weniger als die Verdreifachung, die Experten Erdgaskunden vorhersagen. Außerdem arbeitet Wildpoldsried wieder an Lösungen: „Wir haben auf nahezu jedem kommunalen Gebäude Solaranlagen. Damit erzeugen wir netto mehr, als wir verbrauchen“, sagt Zengerle.

Ein Großteil der Anlagen wurde 2004 angebracht, wird den erzeugten Strom also noch zwei Jahre für die EEG-Umlage ins Stromnetz einspeisen. „Danach fallen die Anlagen aus der Förderung und wir können uns überlegen, wie wir den Strom nutzen“, erklärt die Energiereferentin.

Eine Möglichkeit: Strom-zu-Wärme-Systeme. „Wir haben einige gut gedämmte Gebäude, da bietet es sich natürlich an, die mit Strom zu beheizen und die Fernwärmekapazitäten anderweitig zu nutzen.“ Dafür müsste die volatile Sonnenenergie gepuffert werden: „Wenn die Anlagen nur noch für den Eigenbedarf produzieren, werden wir sicher in jedem Gebäude einen Stromspeicher installieren“, sagt Zengerle.

Warum in Wildpoldsried die Energiewende funktioniert hat

Warum das energetische Mammutprojekt ausgerechnet in Wildpoldsried funktioniert? Für Einsiedler ein Erfolg der Kommunalpolitik: Es habe vereinzelt Bürgerbedenken gegeben, sagt er. Aber breiter Widerstand sei ausgeblieben. „Wir hatten die Gemeinde auf unserer Seite, ohne die geht es nicht.“ Einsiedler kennt das auch anders: „Andere Kommunen hätten auch gute Flächen für Windräder. Da hieß es dann oft: Wollen wir nicht, brauchen wir nicht.“

Ein weit verbreitetes Phänomen in Bayern. Einsiedler hofft, dass die aktuelle Krise Wirkung zeigt: „Wir hatten es nach Tschernobyl, wir hatten es nach Fukushima: Nach jeder Katastrophe sind die Leute drei Jahre auf Spur, danach vergessen sie alles und machen weiter wie bisher. Hoffentlich ist es diesmal anders.“



Quellenlink https://www.merkur.de/wirtschaft/wildpoldsried-dorf-bayern-putin-gas-energiewende-windkraft-photovoltaik-biogas-news-91738063.html