Wie Giorgia Meloni Italien regieren will


Italien wählt an diesem Sonntag ein neues Parlament, und allen Umfragen zufolge haben die Fratelli d’Italia, die „Brüder Italiens“,  gute Chancen, mit etwa einem Viertel der Stimmen stärkste Partei zu werden. Das ist keine erdrückende Mehrheit, zumal bis zu 40 Prozent der Italiener angaben, gar nicht wählen zu wollen. Aber die Parteigründerin Giorgia Meloni hat mit ihrem ärgsten Konkurrenten Matteo Salvini und mit Berlusconis Forza Italia ein Wahlbündnis geschlossen, das ihr im italienischen Wahlsystem einen schwer einholbaren Vorteil verschafft. Auch weil zentristische und linke Parteien kein Gegenbündnis zustande brachten, sind nach der Wahl zwei Premieren wahrscheinlich: Meloni könnte die erste Frau sein, die Italien regiert – und Italien könnte das erste Land der Eurozone sein, das eine rechtspopulistische Regierungsspitze hat.

Bahnt sich da ein Dammbruch an? Kommt da eine Rechtsradikale ans Steuer, die, wie es heißt, ein „entspanntes Verhältnis zum Faschismus“ hat? So lautete jedenfalls das Framing, das viele westliche Medien, von der New York Times bis zum Spiegel, ihren Meloni-Berichten gaben. Auch der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil ließ es sich nicht nehmen, Melonis „Postfaschismus“ als „falschen Weg für Italien“ zu bezeichnen, als er vergangene Woche den sozialdemokratischen Gegenkandidaten Enrico Letta empfing. Gegen solche Warnungen keilt Meloni für gewöhnlich zurück: Linken falle außer Diffamierung nichts gegen sie ein.

Die 45-Jährige hat in ihrem Leben schon einiges als erste oder jüngste getan. Als Tochter einer Schmonzetten-Autorin und eines Steuerberaters wuchs sie mit ihrer älteren Schwester im römischen Arbeiterviertel Garbatella auf. Der Vater hatte die Familie früh verlassen, die Mutter vertraute auf die in Italien bis heute unverzichtbare Hilfe der Großeltern. Gemäß der selbstgeschaffene Legende begann Melonis politische Laufbahn, als sie mit fünfzehn Jahren, aufgerührt von den Korruptionsskandalen der 90er-Jahre, das Lokalbüro des neofaschistischen Movimento sociale italiano (MSI) betrat. Mit 21 wurde Meloni in den Provinzrat von Rom gewählt, mit 29 war sie die jüngste Abgeordnete und Vizepräsidentin des nationalen Parlaments, mit 31, in der vierten und letzten Amtszeit Berlusconis, die jüngste Ministerin Italiens.

Der Dammbruch von rechts hat längst stattgefunden

Es ist ein Leichtes, Meloni ihre europafeindlichen Tiraden und anti-woken Provokationen vorzuhalten, an Archivmaterial mangelt es nicht. Die Desavouierung rechter Politiker als rechtsradikal funktioniert aber nur so lange, wie eine kritische Zahl von Wählern darin etwas Anstößiges oder Gefährliches sieht. In Italien dürfte dieser Punkt seit einiger Zeit überschritten sein. Mit Matteo Salvini war schon 2018 ein Rechtsnationaler Wahlsieger und Innenminister. Gegen ihn wirken Melonis Positionen zu Europa, zur inneren Sicherheit und zur Immigration – die sie wie Salvini weitgehend stoppen will – vergleichsweise milde. Der Dammbruch von rechts hat längst stattgefunden.

Wie ernst Melonis neofaschistische Wurzeln zu nehmen seien, wird in Italien zwar diskutiert, es ist aber kein Thema, das ihr wirklich schadet. Als im Spätsommer klar wurde, dass ihr ein Wahlerfolg schwer zu nehmen sein würde, startete sie eine Charmeoffensive, nahm mehrsprachige Videos auf, um Italiens Partnern zu versichern, dass sie fest zur Nato, zur Europäischen Union und zum Euro stehe, dass Italien auch unter ihr die Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine mittragen würde.

Nur eines will Meloni offenbar vermeiden: sich öffentlich von ihrem frühen Eifer für den MSI distanzieren und damit diejenigen verprellen, die ihr bei ihrem Aufstieg halfen. Anders als Marine Le Pen, die beharrlich daran arbeitet, das Image des alten Front National abzustreifen, hielt Meloni eine solche Lossagung bisher nicht für nötig oder opportun. Die grün-weiß-rote Flamme, die schon das Logo des MSI ausschmückte, lodert weiterhin im Emblem der Fratelli d’Italia. Kritiker sagen, sie erinnere an das Grab Mussolinis, Verteidiger behaupten, sie sei nur eine Hommage an das „Grab des unbekannten Soldaten“ im von Mussolini eingeweihten römischen Nationaldenkmal.

Städtebaulich lassen sich Mussolinis Spuren nicht tilgen

Sie haben einen „rapporto sereno“ zum Faschismus, hat Meloni einmal, 2006, gesagt, er gehöre zur italienischen Nationalgeschichte. Statt von „entspannt“ könnte man auch von einem „aufgeräumten“, „abgeklärten“ oder „heiteren“ Verhältnis schreiben, lexikalisch wäre das alles zutreffend. Inhaltlich passender wäre vielleicht „folkloristisch“. Man wird nicht klüger, wenn man den italienischen Faschismus und sein ästhetisch-soziales Nachleben mit einer Sensibilität beurteilt, die sich am deutschen Nationalsozialismus herausgebildet hat. Dafür ist die Geschichte dieser beiden Regime, trotz ihrer verhängnisvollen Wechselwirkung, zu verschieden.

Mussolini herrschte über zwanzig Jahre in Italien, in fast jeder Stadt hat er ein imposantes Postamt, einen Bahnhof und Verwaltungsgebäude im faschistischen Stil hinterlassen. Städtebaulich lassen sich solche Spuren nicht tilgen, und auch die Idee eines nationalistischen Sozialstaats, wie die Faschisten ihn einst eingesetzt hätten, kommt immer mal wieder hoch, zuletzt in den medienwirksamen Aktionen der faschistischen „Casa Pound“, die wie viele Zivilvereine in größeren Städten Nachbarschaftszentren und Essensausgaben betreibt, allerdings unter der Maßgabe „Italiener zuerst“. Solche Botschaften verfangen auch deshalb, weil ein Land, das mit nunmehr 150 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldet ist, von einer Sozial- und Familienpolitik wie der deutschen nur träumen kann.

Der Movimento sociale italiano war 1946 gegründet worden, ein Jahr, nachdem Mussolini von Antifaschisten erschossen und kopfüber an einer Tankstelle aufgehängt worden war. Er ließ den Personenkult um den Duce weiter glimmen und hielt ehemaligen Generälen und Funktionären bis weit in die Nachkriegszeit die Ehrenplätze warm. Während sich die faschistische Jugend in den bleiernen 70er-Jahren Straßenschlachten mit den Kommunisten lieferte, klebte Melonis Mutter Plakate für den MSI. 1995 benannte der Movimento sich um, wurde respektabler und ging schließlich in einem Regierungsbündnis mit Berlusconi auf, zu dem auch Meloni gehörte. Als der Cavaliere 2011 aus dem Amt gedrängt und durch eine von Brüssel favorisierte Expertenregierung Mario Montis ersetzt wurde, gründete Meloni aus Protest die Fratelli.

Eine geringe politische Substanz des Wahlkampfs

Auch die nächste Expertenregierung verweigerte Meloni die Zustimmung – die im zweiten Pandemiejahr von und für den ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi komponierte „Regierung der nationalen Einheit“ wollten die Fratelli als einzige Partei nicht unterstützen. Entsprechend groß war Melonis Sendezeit als einzige echte Oppositionspolitikern. Italienische Politik wird oft als großes Theater beschrieben, Meloni verhält sich in der Öffentlichkeit aber gerade nicht wie jemand, der sich verstellt, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Wenn sie über ihre Gegner die Augen rollt, in rastlose Monologe verfällt oder mit dem Publikum scherzt, dann wirkt sie eher wie eine gewöhnliche Cholerikerin, die einen Familienstreit gewinnen will. Kritik an ihrer faschistischen Symbolik hat sie inzwischen zu ihren Gunsten umgedreht: Wer immer nur auf ihrer Vergangenheit rumreite, der habe zu ihrer Politik wohl nichts zu sagen. Die geringe politische Substanz des Wahlkampfs gab ihr leider recht.

Italiens politische Landschaft ist auf eine Weise zerklüftet, die es schwierig macht, den Durchblick zu behalten. Nach dem Korruptionsskandal der 90er-Jahre verschwanden alle traditionellen Parteien, und es folgte eine Kultur des politischen Unternehmertums, die immer neue, auf Einzelpersonen und Einzelthemen fokussierte Formationen hervorbringt. Im Rückblick ist es schwer zu glauben, aber Berlusconi, der 1994 aus der Tabula rasa als neuer Ministerpräsident aufstieg, war einst als populistischer Saubermann und Korruptionsbekämpfer angetreten.

Danach konnten die Italiener verfolgen, wie die Lega Nord von einer separatistischen Regional- zu einer souveränistischen Nationalpartei mit Verbindungen nach Moskau wurde, die Parteichef Matteo Salvini seit Monaten zu kaschieren versucht; wie Matteo Renzi als Wunderkind des linksliberalen Partito Democratico vom Florentiner Bürgermeister zum Ministerpräsidenten aufstieg, bis er sich mit seiner Partei zerstritt und 2019 eine eigene gründete; wie sich aus einer Marktplatzbewegung des Komikers Beppe Grillo die Fünf-Sterne-Regierungspartei entwickelte, die den parteilosen Giuseppe Conte zum Premier machte; und wie Conte diese Partei selbst übernahm, um sie über der Frage zu spalten, ob man Mario Draghi bis zum regulären Wahltermin 2023 mittragen sollte (man tat es nicht, deshalb gibt es jetzt Neuwahlen).

Giorgia Meloni verkauft sich als starke Frau und Stabilitätsgarantin

Berlusconi, immerhin 85-jährig, scheint sich von seinen diversen Vorstrafen, laufenden Gerichtsverfahren und gesundheitlichen Strapazen erholt zu haben und trat im Wahlkampf als TikTok-Creator für seine wiederauferstandene Forza Italia in Erscheinung. Salvini, Renzi, Conte, der ehemalige Fünf-Sterne-Chef Di Maio, Enrico Letta und noch einige andere Männer sind im Wahlkampf mit ihren eigenen Parteien vertreten, und jeder von ihnen versucht, mit einem möglichst einfachen Thema – ein auskömmliches Bürgergeld, eine flat tax für die hart Arbeitenden, ein Einwanderungsstopp, ein zweites Mandat für Mario Draghi – ein wenig Aufmerksamkeit zu bekommen.

Da ist es gar nicht verwunderlich, dass Giorgia Meloni, deren Karriere bisher ziemlich linear verlief, sich als starke Frau und Stabilitätsgarantin zu verkaufen weiß. Im Wahlkampf blieb sie bewusst vage: Zur Migrations- und Europapolitik sagte sie gerade so viel, dass sie nicht von Salvini übertrumpft wurde. In der Wirtschaftspolitik gab sie sich so unternehmerfreundlich wie Berlusconi, in der Außenpolitik so atlantisch wie Draghi. Die Politikbereiche, für die sie vor ihrer staatsfraulichen Wende bekannt war, sind klassischer konservativer Kulturkampf. „Ja zur natürlichen Familie, nein zur LGBT-Lobby, ja zur sexuellen Identität, nein zur Gender-Ideologie“, schrie sie im Juni, noch vor der Auslobung von Neuwahlen, auf einer Veranstaltung der spanischen Vox.

Melonis größtes genuines Projekt dürfte eine Verfassungsreform sein. Im Mai hatte sie einen Gesetzesvorschlag eingebracht, um Italien in Richtung eines präsidialen Systems zu verändern. Der Staatspräsident sollte direkt gewählt werden und nicht mehr nur Staatsoberhaupt, sondern auch Regierungschef sein. Es wäre der folgenreichste Umbau der Republik seit 1946, und Kritiker befürchten nicht ohne Grund, ein solcher presidenzialismo könnte den Weg für einen Orbánismus all’italiana frei machen. (Man muss allerdings zugeben, dass Frankreich ein ähnliches System bereits hat, es ist nur noch nicht von einer Rechtspopulistin übernommen worden.) Melonis Vorschlag wurde abgelehnt, für den Wahlkampf hat sie ihn verwässert. Selbst innerhalb einer rechten Koalition dürfte es schwierig sein, eine Mehrheit für eine so umfassende Staatsreform zu finden.

Für Italien ist eine gute Zusammenarbeit mit Brüssel gerade jetzt essentiell

Was soll Europa also von Meloni erwarten? Gegen Nationalisten wie sie wird neben moralischen Argumenten immer auch das ökonomische vorgebracht, sie würden ihr Land ruinieren, der Brexit ist das abschreckende Beispiel. Für Italien ist eine gute Zusammenarbeit mit Brüssel gerade jetzt essentiell. Solange es die europäischen Auflagen erfüllt, profitiert es wie kein anderes Land vom Recovery-Fund. 45 der versprochenen 200 Milliarden Euro wurden geräuschlos ausgezahlt, was als Verdienst des erhabenen Mario Draghi gilt. Die kollegiale Behandlung, die der einstige EZB-Chef seiner wahrscheinlichen Nachfolgerin im Wahlkampf zukommen ließ, deutet darauf hin, dass Meloni die Zwänge, die sich aus Italiens Euro-Mitgliedschaft ergeben, längst verstanden und akzeptiert hat.

Trotzdem dürfte eine Regierung Meloni versuchen, ihr Profil in Konflikten mit der EU zu schärfen, und zwar auf eine ähnlich paradoxe Weise, wie Polen und Ungarn es tun: Man braucht Europa ökonomisch – und neuerdings auch militärisch –, aber allein schon, um das eigene Lager zufriedenzustellen, muss man es auf kultureller Ebene bekämpfen. Wenn Meloni gegen die Gasspekulation an der Amsterdamer Börse schimpft oder gegen ein Deutschland, das nur deshalb keinen Energiepreisdeckel wolle, weil es als reichstes EU-Land alle anderen auf dem freien Markt überbietet, dann streichelt sie die Gefühle des südlichen Underdogs, der gegen die Mächtigen aus dem Norden rebelliert. Das ist gewiss nicht unpopulistisch, und es ist klar, dass Meloni keine weiteren Kompetenzen nach Brüssel abgeben will. Es ist aber auch einfach die Konsequenz einer real existierenden europäischen Innenpolitik. Die Chefs der peripheren EU-Länder sind zu Hause an der Macht. In Brüssel sind sie in der Opposition.



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