Wie ein vergessenes Neonazi-Attentat wieder in den Fokus rückt

An einem späten Samstagabend im Januar 1984 betreten zwei gut gekleidete junge Männer die Diskothek Liverpool im Münchner Bahnhofsviertel. Doch sie wollen nicht tanzen, sie wollen töten. Zwei Brandsätze werfen sie in den Eingangsbereich, die Flammen breiten sich rasend schnell aus.
Mehrere Menschen werden verletzt, die 20-jährige Corinna Tartarotti, die an der Garderobe gearbeitet hat, stirbt rund drei Monate später an den Folgen ihrer Brandverletzungen. Sie habe ein Seidenkleid getragen und „wie eine Fackel“ gebrannt, heißt es in einer Münchner Zeitung. Weil das Liverpool als „Sex-Disco“ gilt, werden die Hintergründe des Anschlags rasch im Rotlichtmilieu verortet. „Ein heißer Krieg um kalte Sex-Mark“, titelt ein Boulevardblatt.
Dass der Vorfall eine ganz andere Dimension hat, dämmert den zuständigen Ermittlern, als sich bald darauf italienische Kollegen bei ihnen melden: In Mailand ist ein Bekennerschreiben aufgetaucht, in dem sich Rechtsextremisten zu dem Anschlag bekennen und Täterwissen offenbaren. Ihr Name: Gruppe Ludwig.
Gruppe Ludwig: Opfer stammten aus gesellschaftlichen Randgruppen
Als die deutschen Ermittler, die nun mit großem „Bohei“ in Italien empfangen werden, wie sich ein Beteiligter erinnert („Wir wurden mit Blaulicht durch die Stadt gefahren“), die in Norditalien verstreuten Akten zusammenführen, ergibt sich auch für sie ein verstörendes Bild. 1977 hat die Organisation ihren ersten Anschlag begangen und rückt drei Jahre später erstmals in den Fokus der Öffentlichkeit, als sie sich zu mehreren damals ungeklärten Morden bekennt.
In den Städten Verona, Padua und Venedig schlagen die Täter zu, sie töten mit Messern und Molotowcocktails. Es ist die erste Phase eines Terrors, der sich zunächst gegen gesellschaftliche Außenseiter richtet: Homosexuelle, Prostituierte, Obdachlose, Drogenabhängige.
In einer zweiten Phase trifft es katholische Kleriker – solche, die in den Augen der Gruppe „den wahren Gott verraten haben“, wie es in einem Bekennerschreiben heißt. Die Briefe sind in Runenschrift abgefasst, mit Hakenkreuz und Reichsadler versehen. Ihr Sound ist oft nicht nur offen faschistisch („Wir sind die Erben des Nazismus“), sondern auch religiös verbrämt, vulgär im Duktus, verklemmt in der Botschaft: Von einem „Scheiterhaufen der Schwänze“ ist einmal die Rede, zum Anschlag in München heißt es: „Im Liverpool wird nicht mehr gefickt.“
Es sind Sätze, die die dritte Phase der Terrorserie begleiten – diesmal haben die Rechtsterroristen größere Vergnügungsorte ins Visier genommen: Ein halbes Jahr vor dem Liverpool-Attentat verüben sie einen Brandanschlag auf eine Mailänder Erotikkino. Und danach, im März 1984, versuchen sie, eine Diskothek am Gardasee anzuzünden.
Es ist die letzte Aktion der Gruppe Ludwig: Aufmerksame Besucher hindern die beiden Täter an ihrem Vorhaben – und übergeben sie der Polizei. Nun gibt es Gesichter zu der Terrorserie mit mindestens 15 Todesopfern. Eines davon gehört einem gebürtigen Düsseldorfer, der in Italien aufgewachsen ist, aber zuletzt auch in einer Wohnung in München gelebt hat.
Ein deutsches Opfer. Ein deutscher Täter. Und ein deutsches Phänomen: Vergessen.
Oktoberfest-Attentat, Hepp-Kexel-Gruppe, Wehrsportgruppe Hoffmann. Rechtsterroristen haben in der Bundesrepublik schon in den 1980er-Jahren eine blutige Spur hinterlassen – doch im Gegensatz zur medial stark präsenten Roten Armee Fraktion, die ungefähr zur selben Zeit aktiv war, ist ihre Geschichte vergleichsweise unbekannt.
Eine „Erinnerungsdifferenz“ hat Uffa Jensen, Historiker an der TU Berlin, diesbezüglich ausgemacht. Der Begriff fällt in seinem aktuellen Buch, das einen antisemitischen Mordfall in Erlangen behandelt. Dort erschoss ein Neonazi 1980 den Rabbiner Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke.
„Kaum ein zeitgeschichtlich bedeutendes Ereignis wurde so aggressiv vergessen wie dieser antisemitische Doppelmord“, heißt es in der Verlagsankündigung. Über die Gruppe Ludwig sagt Jensen: „Ich bin schon der Meinung, dass man ein teilweise ähnliches Muster der Verdrängung in diesem Fall erkennen kann, wie ich sie in meinem Buch über den anders gelagerten Erlanger Doppelmord beschrieben habe.“ Zum Vergessen habe dabei vermutlich auch beigetragen, dass die Gruppe Ludwig vor allem in Italien agierte und ihre Opfer zunächst vor allem unter gesellschaftlichen Randgruppen auswählte.
„In Deutschland ist die Ludwig-Geschichte schlichtweg unbekannt“
„In Deutschland ist die Ludwig-Geschichte schlichtweg unbekannt“, sagt auch der Berliner Autor Martin Maurer. Er hat zwei Kriminalromane veröffentlicht, die den Fall behandeln. Für seine Recherchen musste er sich auf italienische Publikationen stützen, die Zahl deutscher Texte ist überschaubar.
Mit seinen Büchern allerdings, die Belletristik sind, aber die historischen Begebenheiten anschaulich erzählen, hat der Krimiautor Maurer ein wenig dafür gesorgt, dass sich dieser Umstand ändert. „Ich glaube, dass diese Geschichte erzählt werden muss und ins kollektive Bewusstsein auch der deutschen Gesellschaft gehört“, meint Maurer. Gerade arbeitet er an einer Doku-Serie zu dem Thema.
Tatsächlich gerät gerade etwas in Bewegung, was die Erinnerung an die Gruppe Ludwig angeht. In diesem Jahr hat sich die Stadt München erstmals offiziell an einer von mehreren Gruppen getragenen Veranstaltung zum Jahrestag des Liverpool-Attentats beteiligt. Es ist der vorläufige Höhepunkt mehrerer Erinnerungs-Formate, die die Stadt seit einiger Zeit unterstützt.
Am 7. Januar wurde nun ein Text unter dem Titel „In Gedenken an Corinna Tartarotti“ in Leuchtschrift an eine Fassade am früheren Tatort projiziert, rund 150 Menschen nahmen an der Veranstaltung teil. „Es war allen Beteiligten wichtig, bereits vor einer permanenten Lösung das öffentliche Erinnern zu unterstützen“, sagt Moritz Kienast vom Münchner Kulturreferat in Anspielung auf Pläne, für Tartarotti künftig eine feste Gedenktafel anzubringen.
München: Aktivisten befassen sich mit dem Liverpool-Attentat
Auf eine solche drängt auch die Antisexistische Aktion München (Asam), die sich schon länger mit dem Liverpool-Attentat befasst. Seit einigen Jahren recherchieren Mitglieder von Asam zu dem Thema, haben Angehörige und das verschwunden geglaubte Grab Tartarottis ausfindig gemacht. Es soll vor allem um die Opfer gehen. „Ihre Wünsche und Bedürfnisse sollten im Mittelpunkt stehen“, sagt die Asam-Sprecherin Nina Stern. Das gilt auch für die Kundgebungen und Gedenkveranstaltungen, die die Gruppe organisiert – wie eben jene, die nun in München stattfand. Es gelte zu „verhindern, dass der Anschlag wieder in Vergessenheit gerät“.
Bei der Erinnerung geht es natürlich immer auch um die Gegenwart. Die Gruppe Ludwig ist mit ihrem rechtsreligiösen Duktus zwar ein Sonderfall, erinnert andererseits aber stark an jüngere Phänomene wie den NSU: Ohne ein explizites Bekenntnis wäre ein Zusammenhang mit rechtsradikalen Gedankenwelten und den Mordanschlägen auch hier offiziell kaum hergestellt worden. Und auch hier gibt die geringe Größe der Gruppe Rätsel auf: Auch wenn nur die zwei am Gardasee festgesetzten Personen verurteilt wurden, existieren wie beim NSU auch bei der Gruppe Ludwig plausible Theorien über ein Unterstützerumfeld und weitere Mitglieder.
Für Nina Stern zeigt der Fall der Gruppe Ludwig zudem, wie rechte Gewalt aus einer „imaginierten ‚guten Mitte‘ stammt und es sich bei dieser Gewalt um eine Alltagserfahrung für marginalisierte Gruppen handelt“. Daran habe sich bis heute nicht viel geändert, sagt Stern und betont die gesamtgesellschaftliche Dimension des Phänomens, das sich nicht auf München beschränke. „Mit dem Ziel, eine vermeintlich natürliche Ordnung wiederherzustellen, ermordeten sie jene, die sie für den imaginierten moralischen Verfall und Unreinheit in der Gesellschaft verantwortlich machten. Wir können und werden die Mord- und Anschlagsserie der Gruppe Ludwig nicht ad acta legen, weil dieses Welt- und Menschenbild bis heute in weiten Teilen unserer patriarchalen Gesellschaft vorherrscht.“
Und so geht das so lange ins Hintertreffen geratene Erinnern weiter, geht vielleicht erst richtig los. Wenn sich im kommenden Jahr das Liverpool-Attentat zum 40. Mal jährt, will man in München „vielfältige Veranstaltungs- und Erinnerungsformate nachhaltig zu gestalten“, sagt Moritz Kienast vom Kulturreferat. Vielleicht gibt es dann ja auch eine Gedenktafel.