Warum man Anträge immer ganz zu Ende lesen sollte


Vor einigen Wochen hatte ich unverhofft ein Rendezvous mit einer urdeutschen Erfindung: der Bürokratie. Genauer gesagt, der Universitätsbürokratie. Und weil alle Welt gerade wieder über den Abbau eben jenes Phänomens diskutiert, möchte ich diese Erfahrung mit Ihnen teilen. Denn wie beim Weltverbessern ist es auch beim Bürokratieabbau: Am besten, man fängt vor der eigenen Haustür an. Und falls Ihnen am Titel etwas bekannt vorkommt: Ja, das ist eine Referenz auf Marc-Uwe Kling und die „Känguru-Chroniken“. Es passt einfach zu gut.

Wie jeder ordentliche Student wollte ich nach dem Ende des Bachelorstudiums dem Geist der deutschen Ingenieurskunst Ehre erweisen und schrieb mich daher für den Masterstudiengang „Planung und Betrieb im Verkehrswesen“ (auch bekannt als „Verkehrsingenieurswesen“) an der Technischen Universität Berlin ein. Im Geiste sah ich mich schon mit meinen Kommilitonen in den Vertiefungskursen sitzen, jedoch hatte ich da noch nicht meine Rechnung mit dem ausgefeilten Bewerbungsverfahren der Uni gemacht.

Im ersten Schritt meldet man sich auf einer externen Website an. Dabei gibt man die allgemeinen Auskünfte an: Name, Matrikelnummer, akademische Laufbahn, ob man an einer ausländischen Uni studiert hat, ob man wirklich nicht an einer ausländischen Uni studiert hat, ob man wirklich, wirklich nicht an einer ausländischen Universität studiert hat und so weiter.

„Halt stopp“, werden Sie jetzt sagen, ob die Universität diese Daten nicht schon alle habe, werden Sie sich fragen. Die kurze Antwort ist: Ja. Hat sie. Aber es gibt sicherlich einen guten Grund dafür, dass sie diese Daten erneut abfragt. Nach dem allgemeinen Teil geht es dann auch endlich in die Details, auf welchen Masterstudiengang man sich dann bewerben möchte.

Hierbei wurde ich das erste Mal stutzig. Man merke, dass mein gewünschter Studiengang den handlichen Titel „Planung und Betrieb im Verkehrswesen“ trägt. Um der Website einen Studiengangsnamen-Overload zu ersparen, enthielt die Liste mundgerechte Abkürzungen. „Pl. u Betr. im Verkehrsw.“ lautet das Kürzel, welches meinem Wunschstudium am nächsten kam. Auf der nächsten Seite wird per Textfeld die aktuelle Durchschnittsnote abgefragt. Die beträgt in meinem Fall natürlich 1,0. Also eingetragen, bestätigt und … Fehler!

Ein Texträtsel folgt dem anderen

Ein Hinweisfenster ploppt auf: „Stellen Sie Ihre Durchschnittsnote wie folgt dar: Für 2,0 geben Sie bitte 20 an.“ 20. Ah ja. Aus meinem Grundstudium Informatik weiß ich, dass man derartig einfache Formatierungen mit einer halben Zeile Programmiercode lösen kann. Aber es gibt ja nichts, was ich nicht für diese Uni tue. Also flink 10 reingeschrieben und weiter geht’s zum nächsten Texträtsel.

Ein Antrag wird ausgefüllt

Ein Antrag wird ausgefülltYAY Images/imago

Wann ich mein Studium begonnen habe. Schon bin ich dabei, ganz motiviert WiSe 19/20 (gängiges Kürzel für Wintersemester) einzugeben, da stelle ich fest, dass insgesamt nur sechs Zeichen erlaubt sind, Leerzeichen inklusive. Ein Dilemma, kürze ich das WiSe oder die Jahreszahlen? Ich tippe „WiSe19“ und werde direkt ermahnt, Wintersemester doch bitte mit „WS“ abzukürzen. Zweiter Versuch: „WS1920“, und schon wieder ist irgendwas falsch. Ehrlich gesagt weiß ich auch gar nicht mehr, was die Lösung war, jedenfalls war ich eine halbe Stunde später fertig und mein Puls im vierstelligen Bereich.

Ein Freund erzählte mir später, er musste das Verfahren dreimal durchlaufen, bis die Bestätigungsmail kam. Der Arme ist bestimmt heute noch in Therapie. Trotzdem war ich stolz auf mich, den ersten Schritt erfolgreich durchlaufen zu haben, und umso bestürzter, als ich erfuhr, dass der zweite Schritt darin bestand, ein PDF zu downloaden, auszudrucken und auf neun Seiten genau alle Angaben, die ich gerade online gemacht hatte, erneut aufzuschreiben.

Also von vorne: Name, Matrikelnummer, haben Sie an einer ausländischen Uni studiert, haben Sie wirklich nicht an einer ausländischen Uni studiert, haben Sie wirklich, wirklich nicht an einer ausländischen Uni studiert. Auf Seite fünf werde ich erneut stutzig. Deutschkenntnisse nachweisen. Mal sehen, mein Vorname ist Hannes, meine Nationalität ist deutsch und ich habe sieben Semester in einem deutschsprachigen Studiengang überlebt. Ob das reicht?

Natürlich nicht, also hole ich meinen Aktenordner hervor, um darin nach meinem Abiturzeugnis zu wühlen, mit dem ich meine Deutschkenntnisse bescheinigen kann, solange mein Bachelorzeugnis noch nicht ausgestellt ist. Mittlerweile bin ich richtig im Flow und scanne auch gleich noch meinen Perso, eine Notenbescheinigung aus dem TU-Portal sowie den händisch ausgefüllten Antrag wieder ein, denn ja, das ist auch an der TU Berlin der digitale Workflow: Ausdrucken, Ausfüllen, Einscannen. Und am anderen Ende der Leitung dasselbe.

Immerhin ein Gutes hat dieser Verwaltungsakt: Ich habe meinen Frust kreativ zu Papier gebracht und ein TU-Verwaltungsablaufdiagramm erstellt. Sie mögen schmunzeln, aber ein wahrer TU-Student fühlt den Schmerz. Jedenfalls bin ich nach zwei Stunden fertig und schicke alles ab, danach heißt es warten. Die Bearbeitungsdauer beträgt rund sechs Wochen, von individuellen Rückfragen sei bitte abzusehen. 

Mein Wunsch: Ein schlankeres Bewerbungsverfahren

Nach rund sechs Wochen löst die TU dann auch ihr Versprechen ein, eine Mail ploppt auf, im Anhang findet sich der Zulassungsbescheid für den Master, die Rückmeldung lief auch erfolgreich, also kann das Sommersemester starten. Vier Wochen später sitze ich nichtsahnend in der Uni, als plötzlich eine neue Mail im Postfach aufpoppt: „Masterbewerbung abgelehnt.“ Vor Schreck kippt mir fast die Club Mate übers Tofubrötchen.

Völlig aufgebracht formuliere ich schon eine Beschwerdemail und will mit meinem Zulassungsbescheid um die Ecke kommen, als mir auffällt, dass gerade dieser Zulassungsbescheid zwei extra Seiten hat. Und auf diesen zwei extra Seiten stehen die Anweisungen für den weiteren Bewerbungsverlauf. Denn um sicherzugehen, dass ich nicht auf der Maus ausgerutscht bin und sämtliche Dokumente fälschlicherweise der TU geschickt habe, hätte ich den Antrag auf Immatrikulation stellen müssen. Und vor rund sechs Wochen abgeben. Autsch!

Vorlesungssaal einer Universität

Vorlesungssaal einer UniversitätChristoph Hardt/imago

Der Antrag auf Immatrikulation stellt ein echtes Highlight dar. Mit Kennziffern und drei Seiten Anlagen, die unbedingt in der abzugebenden PDF einzuscannen sind. Insgesamt elf Seiten umfasst das Prachtstück, anzugeben sind unter anderem Informationen wie: Name, Matrikelnummer, ob man an einer ausländischen Uni studiert hat, ob man wirklich nicht an einer ausländischen Uni studiert hat, ob man wirklich, wirklich nicht an einer ausländischen Uni studiert hat. Kommt Ihnen bekannt vor? Mir auch.

In angemessener Panik renne ich also aus dem Vorlesungssaal, drucke am nächstbesten Drucker den Antrag aus und mache meine Angaben. Praktischerweise fällt mir auch jetzt auf, dass im Online-Uni-Portal links oben in der Ecke ein winziges Dropdown-Menü ist, bei dem man den Bewerbungsstatus zwischen Bachelor- und Masterstudium umschalten kann. Im Master-Menü blinken natürlich alle Lampen rot. Toll.

Am nächsten Tag stehe ich im zuständigen Büro in der Uni und werde von einer grinsenden Mitarbeiterin darüber aufgeklärt, dass es jedes Semester „so viele verplante Leute“ gibt. Diesen Stempel habe ich jetzt wohl weg. Glücklicherweise ist die Fristverlängerung nicht so kompliziert wie die eigentliche Bewerbung und mir wird eine Woche Gnadenfrist eingeräumt.

Mittlerweile lese ich Dokumente immer bis zum Ende. Und dennoch kann ich die leise Stimme in mir nicht unterdrücken, die darauf beharrt, dass das in einem schlankeren Bewerbungsverfahren nicht passiert wäre. Zwanzig Seiten Papier und eine komplette externe Website sind nötig, nur um Daten zu erfassen, die ohnehin schon in Datenbanken hinterlegt sind. Zumindest hoffe ich, dass es Datenbanken und keine Ordner sind.

Und in Zeiten des Fachkräftemangels halte ich es auch für Verschwendung von Arbeitszeit, schlecht eingescannte PDF-Dateien von Studenten auszulesen, nur um die Daten dann erneut in eine Tabelle einzutragen. Definitiv werde ich zur nächsten „Campus-Hour“ (so eine Art Meet and Greet mit der TU-Präsidentin) gehen und mein Anliegen vortragen. Vorstellen kann ich mich mittlerweile stolz als Masterstudent. Über den Weg dahin legen wir den Mantel des Schweigens.

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