Von Ligeti über Stockhausen bis Martinů

Matthias Pintscher sprang beim zweiten Biennale-Konzert für Simon Rattle ein und führte mit den Philharmonikern und dem Rundfunkchor Ligetis „Requiem“ auf.

Matthias Pintscher übernahm das gesamte Programm.Franck Ferville
Auch dem zweiten Biennale-Konzert der Berliner Philharmoniker ist der ursprünglich vorgesehene Dirigent abhandengekommen: Statt Simon Rattle stand am Freitag Matthias Pintscher am Pult der Philharmoniker. Anders als vor einer Woche, als Daniel Harding das von Kirill Petrenko vorgesehene Programm stark abänderte, übernahm Pintscher alle vorgesehenen Werke.
Im Mittelpunkt: György Ligetis „Requiem“ von 1965 – die Biennale widmet sich vor allem dem Schaffen des großen, vor 100 Jahren geborenen Komponisten. Ligeti komponierte das Werk als nicht gläubiger Mensch. Wenn er im „Kyrie“-Satz auf kontrapunktische Verfahren der Renaissance zurückgreift, ist das eine Hommage an eine Tradition geistlicher Musik, zugleich aber deren Verdrehung ins Absurde: Ligeti vertont das Geknäuel von Linien, aber diesen fehlen die thematischen Konturen, sodass sie sich zu einem wolkenartigen Klanggeschehen verdichten. Dieser Nebel wird im folgenden „Dies irae“ jäh aufgerissen in grotesk kontrastierende Gesten zwischen Hyperaktivität und Stillstand. Die Schrecken dieses Satzes erinnern weniger an die Höllendarstellungen von Hieronymus Bosch, an die Ligeti wohl dachte, als an grelle, avancierte Comic-Panels von unterschiedlicher Größe und mit expressiv verformten und verdrehten Körpern.
Es gibt Aufführungen, in denen das alles sehr gewollt und überzeichnet wirkt. Pintscher jedoch spürt in dieser enormen Konstruktion den organischen Zusammenhang auf. Der „Requiem“-Satz zu Beginn bleibt deutlich auf dem Niveau einer Einleitung zu den bedrohlichen Klangschwellungen des „Kyrie“. Im Durcheinander des „Dies irae“ verweist er zusammen mit dem fabelhaften Rundfunkchor Berlin und beiden geradezu magisch harmonierenden Solistinnen Makeda Monnet und Donatienne Michel-Dansac auf die schlüssig ineinandergreifenden Varianten der Besetzung zwischen Chor-Tutti und Soli, zwischen verschiedenen Begleitungen und den damit einhergehenden klanglichen Extremen.
Vor der Pause sorgte Bernd Alois Zimmermanns „Musique pour les soupers du Roi Ubu“ für Heiterkeit: Zum einen darf man Zitate raten von „Tristan“-Vorspiel bis zu Boris Blachers „Konzertante Musik“, zum anderen fasziniert der ulkig verrenkte Renaissance-Klang mit Harfen, Mandoline, Piccolo-Flöten und Kontrabass-Consort. Im Schlusssatz mit seiner Vermischung eines endlos wiederholten Klavierakkords von Stockhausen mit Walkürenritt und Berlioz’ „Marche au supplice“ hat man den Eindruck, einem zwischen zwei Sendern unentschlossenen Radioapparat zu lauschen – und wer weiß, ob Zimmermann 1966 eine derartige Erfahrung medialer Störanfälligkeit nicht tatsächlich vorschwebte.
Zwischen dieser Musik einer totalen sprachlichen Selbstentfremdung und der Stil-Konsolidierung in Ligetis „Requiem“ hielt Bohuslav Martinůs „Rhapsody-Concerto“ für Viola und Orchester ungefähr die Mitte: Die chromatisch angekränkelte Tonalität wird dezent folkloristisch gefärbt und wirkt somit nicht mehr ganz echt, sondern sentimentalisch erinnert. Und in eben dieser Rückblickstimmung musizieren die Philharmoniker und ihr ehemaliger Solobratschist Amihai Grosz das wie gewohnt schlampig komponierte, drittklassige Werk auch: sehr liebevoll und ohne Anspruch auf mehr als eine subjektive Wahrheit. So lässt sich die rätselhafte derzeitige Martinů-Konjunktur immerhin einigermaßen ertragen.