Verhandlungssache Gebärmutter: „Himmelszelt“ am Deutschen Theater


Jette Steckel inszeniert Lucy Kirkwoods historisches Justizdrama mit Bezügen zur Gegenwart und vor allem als Defilee grandioser Schauspielerinnen

Eine Jury von Müttern bei der Entscheidungsfindung

Eine Jury von Müttern bei der EntscheidungsfindungArno Declair

Gut zweieinhalb Runden um die Sonne hat der Halleysche Komet gedreht, seit der Zeit, in der das Stück „Das Himmelszelt“ von Lucy Kirkwood spielt. Gut zweieinhalb Stunden dauert die am Sonnabend herausgekommene Inszenierung von Jette Steckel am Deutschen Theater. Die englische Dramatikerin war zwei, als der lichtstarke Himmelskörper 1986 zum letzten Mal in Erdnähe kam. Jetzt müsste er an seinem entlegensten Punkt bei über fünf Milliarden Kilometern vorbei sein und sich wieder zurück in Richtung Sonne bewegen, im Juli 2061 wird er mit seinem Schweif in aller Voraussicht wieder mit bloßem Auge zu sehen sein, wenn es nicht bewölkt ist. Seine Lichtstärke nimmt allerdings merklich ab, weil er auf seiner Reise permanent an Material verliert.

Kirkwood setzt mit dem Kometen ein Zeichen für kosmische Regelmäßigkeit und Vergänglichkeit und vermittelt vor diesem Hintergrund ein Gespür für das Tempo der zivilisatorischen Entwicklung – zum Beispiel der zur Gleichberechtigung der Frau.

Damals, 1759 in einem ostenglischen Dorf, bekamen Frauen in juristischen Zusammenhängen nur eine Stimme, wenn eine hinzurichtende Delinquentin angab, schwanger zu sein. In dem Fall musste die Vollstreckung ausgesetzt werden, denn das Ungeborene ist ja unschuldig.

Die Matronenjury und das Todesurteil

Schwangerschaftstests gab es noch nicht. Um festzustellen, ob besondere Umstände zu gelten hatten oder es sich um eine Ausrede handelte, setzte man eine Matronenjury ein: Zwölf Frauen, die sich durch die Erfahrung der eigenen Mutterschaft als Expertinnen qualifizierten, wurden in einen Raum gesperrt und erhielten, um die Entscheidungsfindung zu beschleunigen, nichts zu essen oder zu trinken, während draußen der Mob tobte, der die Verurteilte hängen sehen wollte. Ohne diesen Druck wären die Zwölf in unserem Fall, dem von Sally Poppy, nicht zu einem einstimmigen Ergebnis gekommen.

Kathleen Morgeneyer spielt die unter Kindsmordverdacht stehende Sally als ein zerquältes, aggressives, verdrecktes, zähes Wesen, das nichts zu verlieren hat und aus irgendeinem tiefliegenden, animalischen Reflex dennoch an seinem verpfuschten Leben hängt. Die zwölf Frauen, von Kirkwood allesamt als vollgültige Figuren mit eigenem Charakter und eigener Geschichte angelegt, sind uneins über den Zustand von Sally – selbst ein hervorgequetschtes Tröpfchen Vormilch besteht nicht als verlässlicher Beweis, erst ein herbeigeeilter, lach!, männlicher Arzt vermag Einigkeit zu schaffen.

Ungeübt im Lügen

Vorurteile, Animositäten, Pragmatismus, Empathie und andere Befangenheiten führen die Gruppe durch unkontrollierbare Dynamiken, lassen verdrängte Konflikte aufflackern und offenbaren die Skrupel und Lüste im Umgang mit Macht – im Lügen sind die Frauen recht ungeübt und so kommt, mit von Kirkwood wohlkonstruierten und hier nicht zu spoilernden Wendungen, die schreckliche Wahrheit scheibchenweise ans Licht.

Die Regisseurin Jette Steckel begnügt sich nicht mit dem psychologischen Realismus dieses historischen Justiz-Thrillers, auch wenn sie auf mindestens zwei TV-Serien anspielt: mit der Einheitsfarbe der Kleider auf die Frauenknast-Serie „Orange Is The New Black“ und mit den Scheuklappen-Hauben auf „The Handmaid’s Tale“ nach Margaret Atwoods gleichnamigen dystopischen Roman, in dem Frauen auf ihre Gebärfähigkeit reduziert und wie Maschinen gehalten werden.

Die unpraktische Kostümdramaturgie wirkt allerdings so fremd und aufgesetzt wie der Einsatz von zu viel Nebel, Hausarbeitschoreografien sowie Singsang- und Hechelchören, teilweise zu lauter, effekthascherischer Musik. Mit diesem Kunstmittelbrimborium konterkariert Steckel das ohnehin so kleinteilig organisierte, deshalb schwer zu entwickelnde vielstimmig-individuelle Spiel des bis in die letzte Rolle großartig besetzten Ensembles. Umso erstaunlicher, woher die Frauen immer wieder die Kraft und innere Beweglichkeit nehmen, um in dramatischen Zwischensprints niederschmetternde Schicksalsschläge auszuagieren und mit beeindruckender Entäußerungsathletik zu beglaubigen.

Kulturelle Wucht und soziale Härte

Schon als Defilee von Schauspielerinnen, von denen wir nur ein paar herausgreifen können, frisst sich der Abend in die Seele. Die bravouröse Maren Eggert hat als wortführende und vielfach beteiligte Hebamme besonders viel anzusagen und wegzuleiden. Anja Schneider platzt mit der Direktheit und Gegenwart ihres Spiels aus jedem Chor. Die Lebenserfahrung der älteren Schauspielerinnen Karin Neuhäuser, Ursula Werner und Almut Zilcher lässt sich mit Händen greifen.

Es ist ein bisschen erbärmlich, wie sich die Männer in den Fokus und in die Machtposition schieben: als nahezu stumm bleibender und permanent anwesender Aufpasser (Manuel Harder) oder als Arzt mit sauberen Händen (Enno Trebs). Kathleen Morgeneyer wirft sich mit vollem Risiko und ohne Reserven in die zerfetzte Opfer-Täterinnenrolle – spätestens das macht einen dann doch fertig. Unter der vielleicht unfreiwillig lindernden Kunstschutzschicht werden die dumpfe kulturelle Wucht und die kratzende soziale Härte der noch lange nicht überwundenen Benachteiligung von Frauen spürbar. Wie weh das tut!

Das Himmelszelt. 15., 24. November, 2., 8. Dezember, 20 Uhr im Deutschen Theater, Karten und Informationen unter Tel.: 28441225 oder: deutschestheater.de



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