Schon kleine Interventionen können Leben retten


Ein Modellprojekt in Kreuzberg und Neukölln ruft Menschen dazu auf, im Falle häuslicher Gewalt in der Nachbarschaft einzugreifen – mit konkreten Tipps.

Eine verzweifelte Frau verdeckt ihr Gesicht.

Eine verzweifelte Frau verdeckt ihr Gesicht.Rolf Kremming/imago

Auf der Straße vor dem Nachbarschaftshaus in der Kreuzberger Urbanstraße steht eine Aufschrift, die jeden zum Hinschauen bringt. „Hier ist kein Platz für Gewalt an Mädchen und Frauen!“, lautet die weiß gesprühte Botschaft – unter einem lebensgroßen Handabdruck und dem Wort „StoP“. So heißt eben die Kampagne, die im Nachbarschaftshaus am Donnerstag vorgestellt wurde. Sie soll Nachbarn von Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, ermutigen, nicht mehr wegzuschauen.

Die Abkürzung StoP steht für „Stadtteile ohne Partnergewalt“, die Kampagne läuft unter dem Slogan „Sie ist unsere Nachbarin“. Es ist eine Anspielung darauf, dass jede Frau von häuslicher Gewalt betroffen sein kann, unabhängig von der sozialen Herkunft, Religion oder Alter. „Patriarchale Machtstrukturen und geschlechtsspezifische Gewalt sind übergreifende Probleme in unserer gemeinsamen Gesellschaft“, sagt Melanie Lenk, eine Sozialbetreuerin und Koordinatorin des Projekts in Kreuzberg. „Aber es gibt zu wenig Fokus auf unsere kollektive Verantwortung, diese Gewalt zu bekämpfen.“

Der Fokus der Kampagne auf weibliche Opfer häuslicher Gewalt kommt daher, dass 80 Prozent der Opfer dieser Gewalt Frauen sind – und 80 Prozent der Täter sind Männer. Nach Angaben des Bundesministeriums des Inneren erleiden jede Stunde im Durchschnitt 13 Frauen Gewalt in einer Partnerschaft in Deutschland; alle drei Tage wird eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Doch ganz oft wird häusliche Gewalt für eine „Privatsache“ gehalten, bei der man als Nachbar am besten nicht eingreift.

Partnergewalt als Privatsache zu betrachten ist „Schwachsinn“

Das sei aber „Schwachsinn“, sagt Nua Ursprung. Sie ist Sprecherin von BIG e.V., der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen. Dieses Vorurteil zu ändern, sei ein wichtiger Teil des Projekts – und man müsse auch wissen, wie man am besten gegen häusliche Gewalt aktiv werden kann. „Wenn Leute nicht helfen, liegt es oft an Unwissen und Verunsicherung“, so Ursprung. „Man weiß nicht, was man tun kann, ohne die Situation zu eskalieren oder sich oder das Opfer in Gefahr zu bringen.“

Als Teil der Kampagne werden mehrsprachige Flugblätter sowohl im Kiez als auch auf Flohmärkten und Straßenfesten verteilt, auf denen erklärt wird, wie man in einer solchen Situation am besten reagieren kann. Wenn man aus der Nachbarwohnung laute Schreie oder Schläge hört, sollte man hingehen und an der Tür klingeln – auch, wenn nur nach etwa einem Ladekabel zu fragen. Schon ein solcher kleiner Eingriff könnte die Gewalt unterbrechen und sogar Leben retten. In den Kiezen, wo man etwa aus Angst vor institutioneller Diskriminierung sich nicht traut, die Polizei zu rufen, muss ebenfalls Aufklärungsarbeit geleistet werden, so die Koordinatorinnen.

Koordinatorin: Nachbarn müssen „Zivilcourage“ zeigen

Auch feste Netzwerke und gemeinschaftliches Bewusstsein für das Thema häuslicher Gewalt machen einen großen Unterschied. „Frauen, die nach einer Trennung aus einer gewalttätigen Beziehung etwa eine neue Wohnung suchen, haben oft riesige strukturelle Hürden zu bewältigen“, sagt Isa Lammaghi, eine Koordinatorin für das StoP-Projekt in Neukölln. „Je isolierter die Frauen sind, je mehr die Nachbarschaft wegschaut und passiv bleibt, umso mehr können sich diese Frauen noch nicht sicher fühlen.“ Deswegen sollen im Rahmen des Projekts „intersektionale“ Aktionsgruppen mit Vertretern etwa von Arztpraxen, Jugendhilfe und Organisationen für Migranten in den Kiezen etabliert werden – „um sich dafür einzusetzen, dass Frauen nicht isoliert werden“, so Lammaghi.

Die Koordinatorinnen des Kreuzberg-Neuköllner Modellprojekts „Sie ist unsere Nachbarin“, Isa Lammaghi, Jana Bargmann, Melanie Lenk, Carla Miranda Contreras (v.l.n.r.), bei der Vorstellung des Projekts im Nachbarschaftshaus Urbanstraße.

Die Koordinatorinnen des Kreuzberg-Neuköllner Modellprojekts „Sie ist unsere Nachbarin“, Isa Lammaghi, Jana Bargmann, Melanie Lenk, Carla Miranda Contreras (v.l.n.r.), bei der Vorstellung des Projekts im Nachbarschaftshaus Urbanstraße.Antonia Wille/StoP

Dem Modellprojekt gehen ähnliche Initiativen in Hamburg und auch Österreich voraus, in Kreuzberg und Neukölln wird es für zwei Jahre finanziert. Seine Organisatorinnen hoffen, dass es viel länger laufen wird – und ähnliche Aktionen in den anderen Berliner Bezirken inspiriert. „Es ist eine Mammutaufgabe“, sagt Isa Lammaghi. „Aber je mehr Menschen Zivilcourage zeigen, umso mehr Opfer werden motiviert, nicht mehr zu schweigen und Hilfe zu suchen.“

Die Hotline von BIG e.V. für Betroffene von häuslicher Gewalt ist unter 030 611 03 00 von 8 bis 23 Uhr täglich (inkl. Sonn- und Feiertage) erreichbar.



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