Schlappe für Putin, Sieg für Erdogan?


BakuAserbaidschan hat am Dienstag mit „Antiterroreinsätzen“ gegen armenische Kräfte in der Region Bergkarabach begonnen, wie das Verteidigungsministerium in Baku mitteilte. Die Region ist Teil der größeren Region Karabach und gehört nach dem Völkerrecht zu Aserbaidschan, wird aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt. Was bedeutet der neue Militäreinsatz, was will Aserbaidschan erreichen?

Die Situation eskalierte bereits in den letzten Wochen. Armenien und Aserbaidschan konzentrierten ihre Truppen mehr und mehr an den Grenzen. So kommt der aktuelle Marschbefehl nicht überraschend. Der sogenannte Latschin-Korridor, die einzige Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien, wurde seit Ende 2022 von Aserbaidschan blockiert, was offiziell jedoch immer wieder bestritten wurde. Zwar verbarg das Land seine Pläne einer „Operation zur Entwaffnung separatistischer Formationen“ in Bergkarabach nicht. Dennoch schien es, als würden die Aserbaidschaner es nicht wagen, Kampfmaßnahmen zu ergreifen.

Aserbaidschans Militäreinsatz zeigt Russlands schwindende Rolle in der Region

Denn vor Ort, zwischen den Kontrahenten, waren russische Friedenstruppen stationiert. Doch die Entschlossenheit der Aserbaidschaner mit türkischer Rückendeckung zeigt recht deutlich, dass Russland im Südkaukasus nicht länger die Verhältnisse bestimmt. 

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Der aktuelle Konflikt lässt sich nicht analysieren, ohne seine Vorgeschichte zu erwähnen. Bergkarabach hatte sich in den 90er-Jahren für unabhängig von Aserbaidschan erklärt und seinen autonomen Status in einem Krieg zunächst stabilisiert. Dieser wurde jedoch von keinem Staat, nicht einmal von Armenien, anerkannt. Regelmäßig kam es rund um die Region zu bewaffneten Zusammenstößen.

Im Herbst 2020 brach der größte Konflikt der letzten Jahrzehnte aus. Es herrschte 44 Tage Krieg, in dem Aserbaidschan militärisch die Oberhand erringen konnte und Teile der Region eroberte. Beendet wurde er mit einer Erklärung des armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan und des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew – ausgehandelt unter Vermittlung von Wladimir Putin. Vereinbart wurde, dass Bergkarabach Teil von Aserbaidschan ist und fünf Jahre lang russische Friedenstruppen dort stationiert werden; mit Option auf Verlängerung. Es schien, als habe Russland seine Machtposition im Südkaukasus stabilisiert.

Aserbaidschan greift Bergkarabach an: Mit Rückhalt des türkischen Präsidenten Erdogan?

Das Selbstvertrauen Aserbaidschans wurde dabei durch den Rückhalt der benachbarten Türkei und ihres Staatsoberhauptes Recep Tayyip Erdogan gestärkt. Dieser bezeichnete auch den Erfolg Aserbaidschans als „den größten Sieg der türkischen Außenpolitik im Jahr 2020“. Die Anwesenheit der russischen Truppen betrachteten die Aserbaidschaner schon ab dem ersten Tag als Übel. Als Russland dann im Februar 2022 seine Invasion der Ukraine begann und sich in diesem Krieg festfuhr, witterte Baku erneut Morgenluft. So richteten die Aserbaidschaner im April 2023 einen Kontrollpunkt im Latschin-Korridor ein. Die Bewohner von Bergkarabach setzte Alijew unter Druck: Entweder sollten sie die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft annehmen oder ihre Heimat verlassen.

Der Kreml reagierte auf dieses Vorgehen aus Baku einfach überhaupt nicht. Die Bewohner von Bergkarabach warfen den Russen Untätigkeit vor, bezeichneten die russischen Friedenstruppen als schwach. Währenddessen unterstützte Aserbaidschan demonstrativ die territoriale Integrität der Ukraine. Alijew blieb der einzige Politiker in den GUS-Staaten, der dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj die Hand schüttelte. Das aserbaidschanische Außenministerium verurteilte ausdrücklich die von Moskau initiierten „Wahlen“ in den besetzten Gebieten der Ukraine. Dennoch blieb die Lage im Verhältnis zwischen Moskau und Baku stabil. Dieses gründet sich auf eine traditionelle Nähe, Alijew selbst arbeitete in jungen Jahren beim KGB. Wirtschaftliche Interessen ließen beide Seiten trotz Disharmonie gute Beziehungen aufrechterhalten. Im Jahr 2022 stieg der Handelsumsatz zwischen den beiden Staaten um 24 Prozent.

Aserbaidschans Militäreinsatz: Hintergrund ist das getrübte Verhältnis zwischen Russland und Armenien

Gleichzeitig wurde das Verhältnis zwischen Armenien und dessen traditionellem Verbündeten Russland getrübt. Ursache war, dass Armeniens Ministerpräsident Paschinjan 2018 durch Straßenproteste und eine „Samtene Revolution“ an die Macht gelangte. Farb- bzw. Stoffrevolutionen sind für Moskau spätestens seit dem Euromaidan ein rotes Tuch. Putin mochte den neuen armenischen Ministerpräsidenten nicht und auch deshalb griff Moskau vor dem Friedensschluss in den letzten Waffengang in Bergkarabach 2020 nicht aktiv ein, was wiederum die Armenier enttäuschte.

In diesem Jahr erreichten die Spannungen zwischen Moskau und Jerewan nun ihren Höhepunkt. Armenien weigerte sich bereits im Januar, auf seinem Territorium Militärübungen der russisch geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit stattfinden zu lassen. Paschinjan bezeichnete die Organisation als „inkompetent“ und drohte mit Austritt. Dass „die Sicherheitsarchitektur Armeniens zu 99,999 Prozent mit Russland verbunden ist“, nannte er im Interview mit der italienischen La Repubblica einen „strategischen Fehler“, man strebe eine Diversifizierung der armenischen Außenpolitik an.

Wie zur Bestätigung fanden im September armenisch-amerikanische Militärübungen statt, was den Zorn des Kreml zusätzlich anfachte. Eine weitere armenische Ohrfeige folgte Mitte September mit der Ratifizierung des Römischen Statuts durch das Land. Damit erkannte Armenien den Internationalen Strafgerichtshof an, der Kremlchef Putin wegen Vorwürfen im Zusammenhang seines Ukraine-Feldzugs auf der Fahndungsliste führt. Im Falle eines Besuchs müssten die Armenier Putin nun verhaften und an den Gerichtshof übergeben.

Aserbaidschan wird wohl Zehntausende von Bergkarabach-Bewohnern zur Flucht nach Armenien treiben

Die Moskauer Zurückhaltung und der sichtbare Bruch mit den Armeniern zeigte Baku, dass die Lage günstig ist, dauerhaft und vollständig die Kontrolle über Bergkarabach zu übernehmen. Auch zurückhaltende Erklärungen des Kreml, dass man „zutiefst beunruhigt über die scharfe Eskalation“ um Bergkarabach sei, konnten den Lauf der Dinge nicht mehr aufhalten. Moskau wirkt blutleer durch den verzehrenden Ukraine-Krieg und besitzt derzeit keine Ressourcen oder anderen Einfluss, um ein Blutvergießen im Südkaukasus analog zum Erfolg vor drei Jahren zu beenden.

Ohne ein Projekt zur Wiedereingliederung der Bewohner von Bergkarabach vorzuschlagen, wird Aserbaidschan nun sehr wahrscheinlich Zehntausende von ihnen zur Flucht nach Armenien treiben. Die russischen Friedenstruppen vor Ort werden bei diesem Prozess zu reinen Beobachtern degradiert. Russland hatte bisher vom zeitweise eingefrorenen Bergkarabach-Konflikt profitiert. Der Moskauer Plan zu dessen Lösung sah jedoch im Prinzip nur vor, ihn immer weiter zu verschieben.

Mit seinem Angriff zeigt Baku auch, dass es diplomatischen Bemühungen Washingtons oder Brüssels gegenüber denen von Moskau den Vorzug gibt. Das Verhältnis zum Westen könnte sich nur trüben, wenn der Militäreinsatz länger andauert und es zu großem Blutvergießen kommt. Sollte es eine neue Einigung geben, steht nur eine Sache fest: Russland wird dabei keine Rolle mehr spielen.

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