Nina Hagen im Interview zu ihrem neuen Studioalbum: “Mein Treibstoff ist die Liebe” | Freie Presse


Die 67-jährige Sängerin über Angela Merkel, Schlager, Reinhard Lakomy, Jesus, ihre Mutter, Geld und Zarah Leander

Kultsängerin.

Nach elf Jahren hat Nina Hagen wieder ein Album veröffentlicht. “Unity” bietet eine breite Palette an Ausdrucksformen und Gastkünstlern, es gibt etwa Kollaborationen mit Bob Geldof oder Funk-Visionär George Clinton. Neben Coverversionen von Sheryl Crow und Bob Dylan hat sie auch einen Song mit dem bemerkenswerten Titel “Atomwaffensperrvertrag” aufgenommen. Gunnar Leue hat sich mit Nina Hagen unterhalten.

Freie Presse: “Es gibt so viele Ninas”, heißt es im Beipackzettel zum Album. Denken Sie selbst gelegentlich darüber nach, wer Sie eigentlich sind?
Nina Hagen: Nee, diese Frage stelle ich mir nicht. Ich weiß, dass ich ein geliebtes Kind dieses Gottes bin, der einen Plan für jeden von uns hat und der für jeden da ist, auch wenn es einem dreckig geht. Das kommt ja im Leben öfters mal vor. Aber dann kann man die anderen Glaubensgeschwister hören, die die schönste Musik der Welt gemacht haben: Gospelmusik. In Form von: Gospelsoul, Gospelfunk, Gospelblues, Gospelreggae. So gehe ich beherzt durch das irdische Leben.

Freie Presse: Sie hatten schon als Kind Berührung mit Gospelmusik?
Nina Hagen: Im Plattenschrank meiner Mutter in Ostberlin standen LPs von Paul Robson und Mahalia Jackson, der großen Gospelqueen. Als ich sie das erste Mal hörte, habe ich Bauklötze gestaunt und mich gewundert, wie jemand so inbrünstig singen kann. Und ich habe gleich mal in eine Bibel geguckt, die bei uns zu Hause rumlag. Das hat mich echt neugierig gemacht auf diese Dinge: Gott, Kirche, Jesus Christus.

Freie Presse: Als junge Sängerin haben Sie sich zunächst auf den Schlagertrip begeben. Warum?
Nina Hagen: Ich habe Schlager nie wirklich gemocht, weil der mir immer zu oberflächlich erschien. In diesem Metier war ich anfangs nur unterwegs, damit ich meinen Berufsausweis bekomme. Das gehörte einfach zur Ausbildung in der offiziellen Staatlichen Schule für Unterhaltungskunst dazu. Um dort unterzukommen, hat mir Reinhard Lakomy sehr geholfen. Ich war schon als 16-Jährige Mitglied in Lackys Backgroundchor und habe im Aufnahmestudio des Berliner Rundfunks mitgesungen. Dabei hatte ich die besten Lehrer der Welt, denn meine Chorschwestern hießen Uschi Brüning und Angelika Mann. Wat für ein Glücksfall! In dem Chor musste ich auch Schlagemucke singen. Außerdem konnte ich mich mit meiner Lust auf Rockmusik nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen. Ich wollte es ja irgendwie schaffen, als vertrauenswürdig eingestuft zu werden, um auch mal mit einer Band im Westen auftreten zu dürfen.

Freie Presse: Dass Sie in der DDR mit “Du hast den Farbfilm vergessen” einen Riesenhit hatten, erfuhren einige Westdeutsche erst, als sich Angela Merkel das Lied zu ihrem Abschied wünschte. Hatte Sie das überrascht?
Nina Hagen: Ja, das war eine echte Kinderüberraschung. Zumal der Text von Kurt Demmler stammt, einem nach der Wende verurteilten Sexualstraftäter, der im Gefängnis Selbstmord begangen hat. Man muss Frau Merkel anrechnen, dass sie christlich gehandelt hat, indem sie ein Stück auswählte, das mit einem Straftäter verbunden ist. Wobei, die Blaskapelle hat ja das Lied ohne Text gespielt.

Freie Presse: Merkel nannte den Song ein “Highlight” ihrer Jugend. Offenbar hatte die Auswahl eher mit Nostalgie zu tun.
Was heißt Nostalgie. Musik, die uns in jungen Jahren begleitet hat, ist Teil von Jugendkultur. Musik hatte schon immer etwas Euphorisches, was Menschen zum Partymachen animiert. Zum Abfeiern des Lebens, dass wir auf der Welt sind. Es gibt ja lustige Bilder von ihr in der DDR, wie sie bei der Jugenddisco hinter der Bar steht, wo sie wahrscheinlich Wodka-Cola oder Rum-Cola zusammengemixt hat.

Freie Presse: Sie waren da weiter, haben sich als Jugendliche sogar an LSD berauscht. Wie kamen Sie in der DDR an den Stoff heran?
Nina Hagen: Die Sache war gar nicht geplant, aber den Stoff hatten meine Freunde in Polen besorgt. Ich war mal mit 16 nach Warschau gefahren, um von dort in den Westen abzuhauen. Was haben wir in unserer Freundesclique in Ostberlin nicht alles nachgedacht, wie man ausbüxen könnte!

Freie Presse: Warum wussten Sie so früh: Ich muss hier raus?
Nina Hagen: Weil ich die große, weite Welt kennenlernen wollte. Ich war ein Rebell, genau wie mein Vater Hans Hagen. Er hat sich als junger Mensch mal bei einer SED-Parteiversammlung hingestellt und gesagt, dass er eine neue Partei gründen will. Der hat gesehen, mit der SED stimmt irgendwat nich. Die sind beratungsresistent und demokratieresistent. Er war Satiriker, Schriftsteller und ein großartiger Drehbuchautor. Irgendwann wurde er zur Persona non grata. Nicht so eine berühmte wie Wolf Biermann, aber auch er hat gelitten. Bei den Nazis hatte er in Isolationshaft gesessen und war gefoltert worden, weshalb er später ein Drogenproblem mit Schlaftabletten hatte. Viele in der Generation unserer Eltern schleppten ja traumatische Erfahrungen mit sich herum, ein Leben lang. Wenn es getriggert hat, bekamen sie Panikattacken oder hysterische Anfälle, weshalb sie sich oft Medikamente einpfiffen. Das haben wir als Kinder ja alles mitgekriegt. Als meine Mama einen Selbstmordversuch unternahm, war ich noch im Kindergarten. Ich kam nach Hause und sah die ganzen Wände voll Blut bespritzt und die Sanitäter. Meine Mutter war benebelt von Alkohol und Schlaftabletten und sagte zu mir: “Entschuldige, Nini, entschuldige.” Ich habe geheult wie ein Schlosshund. Meine Mama, wieso wollte sie nicht mehr leben? Was ist hier nur los? Was läuft mit den Leuten nicht richtig, warum sind die Leute nicht glücklich? Warum sind die nicht ehrlich zueinander? Das hat mich als Kind schon so bewegt.

Freie Presse: Rührt es daher, dass Sie oft entwaffnend ehrlich sind und auch in Ihren Songs viel über Gerechtigkeit singen?
Nina Hagen: Um Gerechtigkeit und darum, steinerne Herzen wieder lebendig zu machen durch Liebe und Nächstenliebe, darum geht es doch. Steht schon in der Bibel.

Freie Presse: Sie haben die DDR als 21-Jährige verlassen und sind zur Weltbürgerin geworden. Was haben Sie als Kennerin zweier Systeme über die Menschen gelernt?
Nina Hagen: Alles. Nichts Unmenschliches ist mir fremd. Letztlich habe ich genau dasselbe gelernt, was andere Menschen auch lernen. Dass es immer irgendwo jemanden gibt, der miesepetrig ist, der dich gern vorführt, beleidigt oder verleumdet. Dass es auch immer wieder Menschen gibt, von denen man nie erwartet hätte, dass sie eine 180-Grad-Wende machen würden. Das habe ich mit mir ganz nahestehenden ehemaligen Mitarbeitern erlebt, unbelievable. Ich bin jetzt 67 und lerne aus Fehlern genauso wie aus positiven Erfahrungen, aus euphorischen genauso wie aus schmerzvollen.

Freie Presse: Von Bertolt Brecht, den Sie sehr verehren, stammt der Satz: “Hungriger, greif nach dem Buch: Es ist eine Waffe”. Sehen Sie Ihre Lieder, wenn nicht als Waffe, so doch als Chance, Dinge zu verändern?
Nina Hagen: Oh ja. Die Lieder kommen aus meinem Antriebssystem, und mein Treibstoff ist die Liebe. Deswegen traue ich mich überhaupt auf die Bühne und an ein Mikrofon. Sonst wäre ich eine ganz schüchterne kleine Luzi.

Freie Presse: Im Song “Geld” singen Sie: “Du glaubst, du gehst gerade, aber ich seh’ dich nur hinken, dich selbst linken und in deinen Illusionen versinken.” In welchen Illusionen sind Sie versunken?
Nina Hagen: Auf ein Fingerschnippen kann ich das nicht sagen. Aber natürlich hat jeder Mensch Vorstellungen gehabt, die sich als Illusionen erwiesen.

Freie Presse: Täuscht mein Eindruck nach dem Hören des Albums, dass Ihre Hoffnung in die Vernunft der Menschen schwindet?
Nina Hagen: Das täuscht. Ich bin zwar sauer und angefressen von der Bosheit der Menschen, die mir begegnet ist. Aber ich spucke es aus und spül’ es runter.

Freie Presse: Trotzdem singen Sie im Song “Geld”: “Wir leben in einer dunklen Zeit.”
Nina Hagen: Das ist eine Momentaufnahme. Der Song ist vor einigen Jahren bei einer Session in London entstanden. Wir haben da so rumgejammt und ich habe das vorm Mikro einfach so rausgehauen: “Wir leben in einer dunklen Welt.” Das war ganz unprätentiös. Ich hantiere da nicht mit irgendwelchen Erlösungsformeln, sondern ich habe schlicht die miese Stimmung eingefangen. Man kann die Dinge auch einfach mal so naiv stehen lassen, und dann kommen eben auch Zeilen raus wie “Unser Lieblingsstürmer schießt mal wieder kein Tor”.

Freie Presse: Im Song “United Women of the World” fordern Sie Frauensolidarität und Zusammenhalt. Haben Sie oft Benachteiligung im Musikbiz erlebt?
Nina Hagen: Ja, sexuelle Übergriffigkeiten. Aber nicht nur, weil ich eine Frau bin, habe ich Benachteiligung erlebt, sondern weil ich eine Nervensäge war.

Freie Presse: Es ist schwer vorstellbar, dass Sie sich je die Butter vom Brot nehmen ließen.
Nina Hagen: Doch, ich bin total gutmütig. Ich war viel zu leutselig und habe den falschen Leuten vertraut. Es gab einige Jahre, da besaß ich nicht mal eine eigene EC-Karte. Manchmal wurden selbst meine Musiker nicht bezahlt, weil sich unser damaliger Manager alles gekrallt hatte. Ich habe schlimme Sachen erlebt im Business. Wenn es um Finanzen geht, war es immer meine solidarische Mutter, die mich mit ihrem Geld vor Schlimmerem bewahrt hat. Die hat von irgendwo was vorgezaubert, um mich noch zu retten. Meine Mutter, die jetzt auch in der ewigen Heimat angekommen ist, war von Anfang an solidarisch mit mir.

Freie Presse: Machen solche Erfahrungen demütig gegenüber dem Leben?
Nina Hagen: Na, aber hallo! Auch die Geburt der eigenen Kinder im Kreißsaal. Das macht dich zu einem mütterlich denkenden, handelnden Menschen.

Freie Presse: Würden Sie für die Umschreibung Ihres Künstlerlebens das Wort Wunder verwenden?
Nina Hagen: Nein, nein. Ich würde drei Buchstaben dranhängen: wunderbar.

Freie Presse: 1983 coverten Sie das berühmte Zarah-Leander-Lied “Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen”. Was bewog Sie damals dazu?
Nina Hagen: Es war damals gang und gäbe, diese Frau zu verteufeln, weil sie 1942 im verkitschten Ufa-Film “Die große Liebe” mitgespielt hat. Man kann sagen, okay, hätte sie ablehnen können, das war vor allem Material zum Durchhalten für die ‚Heimatfront‘. Ich finde es aber immer leicht, im Nachhinein andere gnadenlos zu verurteilen. Das passte mir nicht in den Kram. Außerdem habe ich als Kind die alten Schinken von Zarah Leander im Schwarz-Weiß-Fernsehen in Ostberlin gern geguckt. Ich liebe Zarah Leander, und meine Liebe lass ich mir von niemandem klauen. Auch nicht von den Nazis.



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