Los Angeles: Mein Besuch bei einer Hellseherin


Wie spirituell muss man eigentlich drauf sein, um eine Sitzung beim Hellseher zu buchen? In Los Angeles scheint ein regelmäßiges Reading zum Alltag zu gehören, so wie der Gang ins Fitnessstudio oder zur Yoga-Session. Einblicke in die Kristallkugelwelt der amerikanischen Westküste.

Es schadet nicht, ein wenig verrückt zu sein, um zum Hellseher, Psychic, zu gehen. Verrückt zu sein heißt ja auch nicht, dass man psychotic ist – oder naiv. Große Lebensveränderungen machen neugierig auf einen Einblick in das, was so kommen könnte. Außerdem schadet es nicht etwas lockerer zu werden und Kontrolle abzugeben – gerade als Deutsche in L.A. Schließlich sind die Leute hier pretty chill.

Ich konsultiere meine Mitbewohnerin. “Du warst noch nie bei einer Hellseherin?”, sie sieht mich ungläubig an und lacht dann ihr ansteckendes Lachen. Es ist meine erste Woche in Los Angeles, genauer in Venice Beach. Einmal fragt sie mich, ob ich es zu gruselig finde, wenn sie mir eine Geistergeschichte erzähle. Sie hatte eine Erscheinung in ihrem kleinen, gelben Haus; in dem Haus, in dem ich jetzt auch lebe. Ich finde es nicht zu gruselig, sie erzählt die Geschichte und es wirkt so herrlich normal.

Sie wohnt seit mehr als 30 Jahren in Venice Beach, dem kleinen Hippie-Ort zwischen Pazifik und Utopie, in dem knallige Farben aus jedem Garten schießen, sobald die Sonne wie jeden Tag aufgeht und die Santa Monica Mountains in der Ferne am Horizont mit aufgehen lässt. Die Menschen grüßen sich lächelnd auf der Straße. Wenn ich die durchschnittliche Verlorenheit privilegierter Menschen außen vorlasse, würde ich sagen: Den Leuten hier scheint die Sonne aus dem Arsch. Gerade auf der Westside der Stadt dreht sich das Leben um: Verbunden-Sein mit dem Universum und der Natur, mit Körper, Geist und Seele – so etwas eben. Es geht um Healing, und um Accepting, um Growth und um Learning. Viele Kalifornier wirken auf mich einigermaßen unbesorgt – trotz Waldbränden, Kriminalstatistiken oder der selbstverständlichen Erdbeben-Ausrüstung im Auto. Ein Streifen blauen Himmels wird den Dunst über dem Ozean wegwischen und es geht zum Surfen, Skaten, Spazieren an den Strand. Ich hatte die Utopie bereits erwähnt.

“Ihr Reiki ist unübertroffen”

Einen Tag später stehen wir also im “Mystic Journey Bookstore” in Santa Monica. Dort werden auch Sitzungen mit HellseherInnen angeboten. Hohe Decken, sehr viel Licht, Steine, Kristalle, Schatullen, in deren Deckel verwurzelte Bäume in Gold eingelassen sind. Tarotkarten, Kerzen, Räucherstäbchen, Sandelholz – Selbsthilfe! schreit es Besucher aus jedem Regal an, in dem dann doch mal ein Buch steht. Amerikanisch verwegen, einen Buchladen “Bookstore” zu nennen, der mehr Edelsteine als Buchseiten zählt. Ich lächle. Es riecht fantastisch. 

Wir vereinbaren bei der gut gelaunten Frau hinter dem Tresen einen Termin bei einer Hellseherin, der Psychic Amanda (Name von der Redaktion geändert). Auf einem Flyer grinst sie mich von einem rund ausgeschnittenen Foto aus an und ich überfliege: Hellseherin, Tarot-Karten, Verbindung zu einer höheren Weisheit, Karmische Astrologie, Mediumnität. Bei der Hälfte habe ich keine Ahnung, was das soll, bei dem Punkt “Past Life Reading” denke ich kurz: aha. Außerdem steht da, Amanda sei eine “von Natur aus intuitive Person”. Es gibt auch Bewertungen anderer Kunden auf dem Flyer. Eine Brooke schreibt: “Ihr Reiki ist unübertroffen.” Ihr Reiki?  Amanda werde von den Kunden geliebt, nickt nun die Kassiererin. Das Angebot sei außerdem ein Schnäppchen: 49 Dollar für 15 Minuten! Das muss sie ja sagen, denke ich, und nicke zurück. 

Einer von fünf US-Amerikanern geht zum Wahrsager

2017 sagten 27 Prozent der erwachsenen US-Bevölkerung, dass sie sich als “spirituell” und “nicht religiös” bezeichnen würden. Laut einer in der “New York Times” zitierten YouGov-Umfrage, auch 2017, gab einer von fünf Amerikanerinnen an, zur Wahrsagerin zu gehen. Bereits 2019 gaben Verbraucher demnach knapp 40 Millionen US-Dollar für die zehn beliebtesten US-amerikanischen Apps für Hellseherei und Astrologie aus. Im Jahr davor waren es noch 24 Millionen US-Dollar. Die Zahl derer, die Mami nach der genauen Uhrzeit der eigenen Geburt fragen, dürfte auch steigen. In meinem amerikanischen Freundeskreis zumindest gehört die Frage nach dem Sternzeichen oft zu einer der ersten in einem Gespräch. Gefolgt von der Frage nach dem Aszendenten. Um den zu ermitteln, braucht man die Geburtszeit.

Womöglich finde ich auf die Schnelle keine aktuelleren Zahlen, weil zwischen heute und 2017 das Erlebnis einer Pandemie steht, das noch ganz andere “spirituelle Nebeneffekte” mit sich brachte, nicht nur in den USA. Ein kollektives Erleben des Gefühls von Kontrollverlust, Verlorenheit. Die “New York Times” zitiert in einem Artikel aus dem Jahr 2021 Thomas Rabeyron, einen Professor für klinische Psychologie und Psychopathologie an der Universität Lothringen in Frankreich. Er hat zum Lockdown und der deutlichen Zunahme von Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischen Symptomen bei Studierenden geforscht. Die ständigen Warnungen vor einer unsichtbaren Bedrohung hätten die psychische Gesundheit stark beeinträchtigt. Rabeyron sagt, dass Hellseher “Barometer für soziale Ängste” seien. 

Soll wohl heißen: Die Zahl der Suchenden geht parallel zur Unsicherheit in der Bevölkerung nach oben. Die Suchenden sind oft besonders schutzbedürftig und verwundbar, weil eben von Verunsicherung angetrieben. Natürlich wird das ausgenutzt. Natürlich ist es ein großes Geschäft. Auch in Los Angeles: Gerade hier sitzen Menschen in Cafés, die Bücher mit dem Titel “Money Magic” lesen. Der Kapitalismus durchdringt auch das Spirituelle. Möglicherweise sind die Menschen an der Westküste weniger schutzbedürftig, weil sie nicht erst zur Wahrsagerin gehen, wenn sie verzweifelt sind. Oder wie meine Mitbewohnerin nach einer Sitzung einmal sagte: “Ich war nicht überrascht von dem, was sie mir erzählt hat. Auch den Seelenverwandten kannte ich schon; er ist mir mal im Traum erschienen.” Ich erwähnte bereits, dass Leute hier pretty chill sind.

Außerdem lässt sich Betrug, wie so oft und auch in diesem Fall, eher im Internet finden. Dort geben Menschen gerade seit der Pandemie teils Unsummen aus für Sitzungen. Da jeder ein Hellseher werden kann und die Lizenzen nicht gerade teuer sind (zum Beispiel 30 Dollar im Jahr in Fremont, Kalifornien), gedeiht dort ein Markt an Schwindel und Betrügereien.

Ich wiederum fühle mich mit den schlappen 49 Dollar, die ich für meine Sitzung bezahle, sicher.

Pinke Aura

“Pink, pink, pink, pink”, strahlt mir Amanda entgegen, da habe ich gerade auf dem wackligen Tisch im niedlichen Hinterhofgarten des Buchladens Platz genommen. Wie überall in der Gegend riecht es nach Jasmin und Orangenblüten. Keine schweren Vorhänge, Kerzenflackern und dunkle Zimmerecken. Sie nimmt auf dem Klappstuhl gegenüber von mir Platz. Eine hellblonde, beinahe weißhaarige Frau mit Grübchen, die gut zu sehen sind, weil sie strahlt, strahlt, strahlt. Über uns kräht ein Rabe.

Pink, das sei meine Aura. Auf meinem Weg sei Liebe, keine Frage, sehr viel Liebe, fängt Amanda ohne Umschweife an. Und ehrlich: Wer hört das nicht gern?

Amandas Stimme ist sanft und etwas hoch, als ob sie manchmal gen Himmel abrutscht. Wenn die Wahrsagerin lächelt, grinst sie so sehr, dass ihre untere Zahnreihe sichtbar wird. Ihre Art löst aus, sie umarmen zu wollen und ihr zu sagen: Bleib genau so, wie du bist. Die untere Zahnreihe könnte auch ein Zeichen für tief lauernde Dunkelheit sein, oder eben dafür, dass Amanda im Reinen mit sich selbst ist. Ich gehe immer vom Schlimmsten aus, vielleicht ist meine erste spirituelle Kontaktaufnahme der richtige Moment, das zu ändern.

Also geht es los, und sitze ich nur da und schweige, habe die Hände in meinen Schoß gelegt und sehe passend zu meiner Aura ein bisschen pink aus, denn ich habe einen Sonnenbrand. 

Amanda schließt die Augen und lässt den Kopf rhythmisch abwechselnd nach links und rechts schwingen, gestikuliert sanft und doch ausufernd – und ohne eine Sekunde affektiert zu wirken. Sie sagt mir, was sie sieht, durch das Pink hindurch.

Geister, Guides, Exorzismus

Sie sieht viel, was mit Schreiben zu tun hat, spricht von “writing”. Ich bemerke, wie meine Mundwinkel nach oben gehen. Keine Überraschung für mich, ich wusste das schon, nur Amanda hat es mit ihren geschlossenen Augen gesehen. Kurzanalyse in meinem Kopf: Ich habe weder mit Kreditkarte gezahlt noch meinen vollen Namen genannt. Sie konnte mich nicht googeln. Es fühlt sich an, als hätte Amanda die Bewährungsprobe bestanden. Ich denke: Die Frau versteht etwas von ihrem Job. 

Sie sieht, dass ich in den Topanga Canyon gehen soll. Dort sei ein Haus mit vielen freundlichen Leuten, sie meint: Musiker. Ich soll dorthin, weil ich dort Verbundenheit fühlen würde. Musiker? Aha.

Amanda lässt sich von nichts ablenken. Sowieso scheint sie nur halb an demselben Gartentisch zu sitzen, wie ich. Was Sinn ergibt, denn sie ist auch in Gesellschaft der Guides und Spirits, die sie um mich herum sieht. Wenn ich darüber nachdenke, treffen Hellseherinnen den ganzen Tag über viele Leute, auch aus der Vergangenheit. Eine ständige Gegenwart, die sie wahrnehmen. Klingt anstrengend. Vor allem, wenn man empathisch und introvertiert wirkt, so wie Amanda. Bekommen Psychics soziale Erschöpfungsmomente? 

“Geisterführer”

Sie soll mir von meinen “Geistführern” ausrichten, dass ich bereit bin. Bereit für ein Projekt. Und dass sie stolz auf mich sind. Kurz kriecht meine rechte Hand aus meinem Schoß Richtung Kehle, weil das rührt einen ja schon, dass jemand stolz auf einen ist. 

Ich kann nicht erklären, was genau Amanda da macht, während die Haut um ihre Augen Lachfalten wirft und ihre weißen Haare im leichten Wind wehen. Mein Kopf wird wattig und fliegt kurz in den Wipfel eines nahestehenden Olivenbaums und von oben schaue ich hinab auf die fast wie im transzendenten Tanz gestikulierende Amanda mit der Engelsstimme. 

“In deiner Vergangenheit”, sagt sie, unterbricht sich selbst und schaut mir in die Augen: “Ich will dich nicht erschrecken, aber: In deiner Vergangenheit kanntest du dich mit Exorzismus aus.” Sie sagt, dass ich mich mit Licht und Dunkel beschäftigen werde in diesem meinem Projekt, um zu verstehen, wieso manche Menschen “in die Dunkelheit gehen”, wie sie es nennt. Kurz vergeht mir mein Dauergrinsen. Unfreiwillig resoniert da etwas und ich will nicht weiter darüber nachdenken. Wäre ein passender Zeitpunkt, dass der Rabe wieder krächzt. Stattdessen lacht Amanda laut und wirft den Kopf nach hinten, und anschließend einen Blick auf ihr Handy – 49 für 15, keine Minute länger.

Da beginnt Amanda das große Finale über Liebe und Partnerschaft, und – so viel kann ich sagen: Es sieht extrem rosig aus, nahezu Pink. Das dämliche Grinsen ist zurück.

Worum geht’s?

Vielleicht steckt ein großer Teil des Zaubers schon in der simplen Konstellation eines Readings: in den 15 Minuten geht es nur um mich. Als Sandwichkind ist diese Zeitspanne der puren Aufmerksamkeit wahrscheinlich ein nicht zu unterschätzender Punkt.  

Auf dem Weg zurück ins kleine Haus in Venice sprechen meine Mitbewohnerin und ich im Auto. Sie denke in letzter Zeit viel darüber nach, ob es mehr um die Transzendenz geht, oder schlicht um das höhere Ich, das bereits Dinge weiß, die noch nicht ins Bewusstsein vorgedrungen sind. Eine Art Unterbewusstsein. Ohne Psychologie und Spiritualität gemeinsam in einem Satz nennen zu wollen, ohne komplett auszuflippen, aber: In der Lacan’schen Psychoanalyse gibt es nach nicht ganz unähnlicher Logik den “großen Anderen” – und wieso sollte es nur einen Weg geben, mit ihm in Verbindung zu treten? Ich sitze im Auto und zucke mit den Schultern. Möglicherweise hat Amandas Strahlen auf mich abgefärbt. Ich fühle mich leicht nach meiner Session.

Und vielleicht ist es nur ein kleiner Schritt zum Wahnsinn, aber vielleicht ist es auch Wahnsinn, sich gar nicht mit den Grenzen und Möglichkeiten des Unerklärlichen auseinanderzusetzen. Die absolute Grenze jedoch ist die der Verantwortlichkeit: Ein Besuch beim Psychic ersetzt nie den Besuch beim Psychotherapeuten. Aber den ersetzt im Zweifel nichts.

Topanga ist ganz schön

“49 for 15? Sounds kinda cheap.” Am Abend nach meinem Besuch bei Amanda treffe ich einen Bekannten in einer Bar um die Ecke. Ich fühle mich noch immer – oder schon wieder – leicht; wir trinken Bier. Mein Bekannter ist Kalifornier und der Erste, der mit den Augen rollt, als ich ihm von meinem Reading erzähle. Trotzdem fragt er mich, ob ich im Sternzeichen Zwilling bin; er hat wohl schlechte Erfahrungen gemacht.

Wir trinken das zweite oder dritte Bier, als er erzählt, dass er Musiker ist. Ich rutsche unruhig auf dem Barhocker hin und her, erwähne das Reading nicht noch einmal; immerhin sind in L.A. ja alle Musiker oder Models. 

Gegen Mitternacht stehen wir dann halb verloren auf einem Parkplatz und versuchen, uns gekonnt zu verabschieden. Der Musiker fragt, ob wir uns wiedersehen, und macht ein paar Vorschläge. Er kenne ein paar gute Strände. Oder ob ich gerne wandern würde? “Wir könnten nach Topanga fahren”, sagt er schließlich. Dort sei es ganz schön.



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