Lebensmittelretter: Mirko Buri bringt auf die Teller, was für andere Müll ist

Mirko Buri ist ein Pionier. Er betreibt das erste Anti-Foodwaste-Restaurant in der Schweiz. Dort bringt er auf die Teller, was andere Menschen wegwerfen würden. Damit rettet er nicht nur Lebensmittel, er trägt auch zum Umdenken bei.
Die Zucchinis sind zu groß. Riesig. Definitiv zu groß, um daraus Zucchinischiffchen zu machen. Mirko Buri muss schnell eine Entscheidung treffen, umdisponieren. Das kennt er schon. Buri betreibt ein Anti-Foodwaste-Restaurant in Köniz – das erste in der Schweiz. Er arbeitet mit der Unberechenbarkeit. Denn die Produkte, die er zu Gerichten macht, sind die, die andere aussortiert haben. Er ist ein Pionier im Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung.
Bis vor ein paar Jahren kochte Buri in der Schweizer Spitzengastronomie. Er setzte Visionen von Gerichten um. Hatte, bevor er sich daran machte, sie zu kochen, eine genaue Vorstellung davon, wie die Kompositionen schmecken und vor allem aussehen sollten. Für seine Kreationen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Es lief gut, bis eine Dokumentation alles in Frage stellte.
Das Potenzial auf dem Feld
Eines Abends sah er “Taste the Waste”. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie viele Lebensmittel unnötig im Müll landen. Die Zahlen, die er dort hörte, ließen ihm keine Ruhe. Er packte sein Auto, fuhr aufs Land und war schockiert. “Da stehst du auf dem Feld und weißt, mit dem was da liegt, könnte man locker 3000, 4000 Leute satt bekommen”, erzählt er. Ein Anblick, an den er sich auch nach sechs Jahren nicht gewöhnt habe.
Sind Obst und Gemüse aus der klassischen Form gewachsen, gilt das als Qualitätsmanko. Obschon Optik nichts über den Inhalt aussagt, schaffen es diese Produkte kaum in den Verkauf. Zwar gibt es inzwischen Supermärkte, die solche “Misfits” anbieten, allerdings sind diese noch immer Nischenprodukte und mehr Kuriosität als Normalität.
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© Markus Spiske / Unsplash
Von der Spitzengastronomie zum Anti-Foodwaste-Restaurant
Ein Status quo, den Buri nur allzu gut kannte. Produktperfektion gehörte zu diesem Zeitpunkt zu seinem Alltag. Entsprach die gelieferte Ware nicht den Vorstellungen, passte die Größe, Form oder Färbung nicht zum geplanten Gericht, wurden die Produkte nicht verarbeitet. Ein Umstand, der ihn mehr und mehr zum Hadern brachte.
Ist das alles so richtig? Er begann nun an den Wochenenden regelmäßig Ausflüge zu den umliegenden Landwirten zu machen. Dort nahm er mit, was als Abfallprodukt liegengeblieben war. Die Bauern wunderten sich. “Die dachten, wir brauchen Futter für Tiere”, Buri lacht, wenn er an die Anfänge zurückdenkt. Ein Jahr ging das so, es war ein Jahr der Transformation.
“Früher habe ich mich tipptopp selbst belogen. Ich habe gedacht, ich koche super regional und habe überhaupt nicht mitbekommen, dass ich mir da selbst etwas vormache”, erzählt er rückblickend. 2014 machte Buri den Cut. Er kündigte und wagte mit dem eigenen Restaurant “Mein Küchenchef” den Neustart – und damit das öffentliche Aufbegehren gegen die Lebensmittelverschwendung.
Anti Foodwaste – alles nach Gesetz
70 Prozent aller Lebensmittel, die das Restaurant verarbeitet, sind solche Feldabfälle. 30 Prozent werden konventionell zugekauft. “Es kamen schon immer wieder welche, die sagten, ihr seid doch die, die die Schweineeimer von den Restaurants nehmen und daraus eine Suppe machen”, berichtet er – “das machen wir natürlich nicht.”
Auch wenn Foodwaste großgeschrieben wird, verkocht wird nichts, was schon einmal als ein Gericht auf dem Teller war und containern geht Buri auch nicht. Gearbeitet wird strikt nach den Regeln des Lebensmittelgesetzes. Legal aber ist es, Firmen Lebensmittel abzunehmen, die qualitativ in Ordnung sind, deren Verpackung aber beschädigt ist oder der Aufdruck veraltet.
Neustart ins Ungewisse
Ein Anti-Foodwaste-Restaurant zu eröffnen, war ein Wagnis. Selbst die Landwirte waren skeptisch, viele reagierten zunächst ablehnend. “Keiner will öffentlich dazu stehen, dass er Lebensmittelmüll verursacht. Das ist ein riesiges Tabuthema”, erzählt der 37-Jährige. Buri aber überzeugte sie.
Am Ende blieb nur eine offene Frage: Wer wird das essen? “Wir hatten schon Angst, dass die Leute nicht verstehen, was wir machen. Das wir zu viel erklären müssen”, erklärt er. Die Sorge aber war unbegründet. Schon am zweiten Tag war die Bude voll. So voll, dass sie Klapptische aufstellen mussten, um dem Andrang Herr zu werden. Seither brummt der Laden, es ist fast täglich ausreserviert. Am Tag gehen bis zu 70 Gerichte raus, darunter Tagesmenüs und Essen à la carte.
Vom Einkauf bis zur Verwertung
Regionalität ist der Schlüssel. Avocado und Banane gibt’s bei Buri nicht. Stattdessen können die Gäste bei ihm vieles, was vor der eigenen Haustür wächst, neu entdecken. Dazu gehören Klassiker wie Äpfel und Birnen, aber auch extravagante Sorten wie die Aronjabeere. “So bekommen wir eine Vielfalt, die im Mainstream nicht zu finden ist”, erklärt er, warum regionale, saisonale Küche alles andere als langweilig ist.
Lebensmittelabfälle minimieren, heißt, die Ware nehmen, wie sie kommt. Es sind die Produkte, welche die Richtung vorgeben. Abhängig vom Angebot gestaltet Buri seine Menüs. “Für mich ist das fast eine Erleichterung. Jetzt stehe ich im Gemüse und muss spontan kreativ werden.”
Mirko Buri hilft selbst regelmäßig bei der Ernte mit. Auch seine Mitarbeiter müssen einmal im Monat aufs Feld.
© Mirko Buri
Spaß mache das nicht immer. “Manchmal hast du Kartoffeln so groß wie Knoblauchzehen. Wenn du stundenlang Kartoffeln schälst, um am Ende eine kleine Schüssel zusammenzubekommen, dann fragst du dich schon, was du da machst”, erzählt er. Der Zweifel gehöre dazu. “Da muss man durch.” Und wenn die Gesichter in der Küche zu lang werden, helfe nur eins – das Gespräch.
Wichtig sei, dass das Verständnis für die Sache und die Entstehung des Produkts da sei. Daher schickt Buri seine Mitarbeiter einmal im Monat aufs Feld. “Wer einmal bei der Kartoffelernte geholfen oder Eier sortiert hat, versteht, warum wir das machen”, so Buri. “Das muss man selbst gesehen, erlebt haben.”
Restlose Verwertung
Die Herkunft der Produkte ist nur eine von drei tragenden Säulen des Konzepts von “Mein Küchenchef”. Denn in Buris Küche sollen die Lebensmittel möglichst restlos verwertet werden. Wo andernorts beispielsweise die Karottenschalen unbeachtet im Kompost landen, macht Buri aus diesen ein Würzsalz oder einen Fond. Produkte, die inzwischen auch über die eigene Produktlinie “Foodoo” verkauft werden.
Anstelle einfach darauf loszukochen, wird im “Mein Küchenchef” nach Maßnahmenkatalog gearbeitet. In dem 46 Punkte dicken Werk, stehen die größten Foodwaste Verursacher geschrieben: Plane ich richtig? Wie berechne ich die Größe des Gerichts? Achte ich genug auf das regionale Angebot? Ein Handbuch, das dabei helfen soll, das Kochen und den Umgang mit den Produkten neu zu denken.
“Das ist ganz einfach, wenn man es einmal verinnerlicht hat”, meint Buri – und effektiv. Recht gibt ihm eine Studie, die er gemeinsam mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich durchgeführt hat. Demnach produziert sein Restaurant rund zehnmal weniger Lebensmittelabfälle als ein konventioneller, mittelgroßer Gastronomiebetrieb.
Nachschöpfen statt wegwerfen
Auch die Restaurantgäste tragen ihren Teil an der Eindämmung des Lebensmittelabfalls bei. Wenn auch passiv. “Wir haben zum Beispiel beobachtet, das Frauen grundsätzlich nur ein Hälfte des Burger-Brötchens gegessen haben. Das war ein Phänomen”, erzählt er. Solche und andere Beobachtungen wurden nach und nach in Arbeitsabläufe eingebunden. So wurden die Tellerreste analysiert und gewogen. Dadurch konnte die optimale Größe eines Gerichts ermitteln werden – optimal, wenn es um die Eindämmung von Abfall geht.
Denn anstelle in Kauf zu nehmen, dass immer etwas übrig bleibt, konzentriert sich Buri auf das Aufessen. Das gelingt durch eine einfache Umstellung. Das Restaurant orientiert sich nicht mehr an den Viel-, sondern an den Wenigessern. Das lohne sich. Sei aber ein Konzept, an das sich viele andere Gastronomen nicht trauen würden. Das erfordere Mut, denn einer, der zu wenig bekomme, schreie lauter als der, der zu viel auf den Teller hatte, meint Buri. “Ob Gefängnisküche, Krankenhaus oder Sterneküche – alle haben Angst, dass das Essen ausgeht”, sagt er aus Erfahrung. “Es ist bequemer etwas wegzuwerfen.”
Buri macht bei der Überproduktion nicht mehr mit. Satt wird bei ihm dennoch jeder. Der Weg von zu viel zu genau richtig führt über den Nachschlag. Im “Mein Küchenchef” kann jeder so oft nachschöpfen, bis der Hunger gestillt ist. “Das ist eine Win-win-Situation für alle. Die Wenigesser sind zufrieden, weil sie den Teller schaffen. Und die Vielesser können entsprechend nachschöpfen – das spricht sich rum”, so Buri. Obschon das natürlich nicht zu 100 Prozent gelinge. “Es wird nicht immer aufgegessen. Kinder, die Erbsen aussortieren, wird es immer geben.”
Den Hunger kalkulieren
Die Arbeit in einem Restaurant ist nur bis zu einem gewissen Punkt planbar. Schließlich weiß der Koch am Anfang des Tages nie, wie viele Gäste tatsächlich kommen werden und wie vielen davon der Magen tief in den Kniekehlen hängt.
Buri aber muss den Hunger der Gäste vorab kalkulieren und daran die verkochten Mengen ausrichten. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Er nutzt einen einfachen Trick: Er kocht vor. Vieles wird pasteurisiert und haltbar gemacht. Das ermöglicht es ihm, präziser abzuschätzen, wie viel Essen an den Tagen wirklich verwendet werden muss.
Und geht ihm dennoch einmal ein Gericht aus, scheut er sich nicht vor Plan B, dann stellt er das Tagesmenü einfach um. “Ich habe kein Problem damit, das Menü am Tag zweimal zu wechseln. Niemand nimmt uns das übel, die Leute lassen sich überraschen.”
Was darf “Foodwaste” kosten?
Wer zu Buri ins Restaurant kommt, bekommt keinen Abfall auf den Teller, nur weil er vermeintliche Abfallprodukte verwertet. Ein Missverständnis gegen das er ankämpft und das sich auch im Preis widerspiegelt. Ein Tagesmenü kostet aktuell 18 Franken inklusive Getränk. Früher waren es 15. Angehoben hat er, weil er mit seinen Preisen nicht der umliegenden Gastronomie schaden wollte. 18 Franken sind kein Schnäppchen und das aus gutem Grund.
“Die krumme Karotte hat dem Landwirt ebenso viel Arbeit gemacht, wie die ‘Gute’. Auch diese muss er heranziehen, er wäscht sie für mich, packt sie ab. Warum soll das weniger kosten?”, fragt Buri. Er hat sich dafür entschieden, diese Arbeit so zu entlohnen, wie er es bei anderen Produkten auch tun würde. Damit möchte er auch zur Wertschätzung beitragen. “Diese Produkte haben die gleiche Qualität, den Preis zahle ich gern.”
Zweiter Aufwind für das Foodwaste-Thema
Buris Entscheidung sich gegen den Foodwaste einzusetzen, ist in diesem Jahr sechs Jahre alt. Nachdem zu Beginn viele sein Vorhaben eher argwöhnisch beäugt hätten, hätten die letzten sechs Jahre bewiesen, dass das Konzept aufgehe. Der Beweis ist erbracht. So sagt Buri: “Jetzt schauen die Leute wieder auf uns und sehen, dass es funktioniert. Nach sechs Jahren zündet es jetzt ein zweites Mal.”
Und die überdimensionierten Zucchini, die keine Schiffchen werden wollen? “Gar kein Problem”, Buri lacht. “Die mache ich zur Pizza.” Den Schweizer bringt so schnell kein störrisches Gemüse mehr aus der Fassung.