Larissa Reissner, ein Polit-und Literaturstar der 1920er-Jahre


Ein Damenopfer bezeichnet im Schachspiel eine Strategie, mit der die stärkste Figur hergegeben wird, um unerwartet mit einer vermeintlich schwächeren den gegnerischen König zu attackieren. Als Larissa Reissner in Steffen Kopetzkys Roman „Damenopfer“ diesen Zug anwendet, hatte sie zuvor Unbeholfenheit vorgetäuscht und ein selbstgewisses Großmaul nur um so siegessicherer gemacht. Genussvoll schlug er Larissas Dame, „pflückte sie beinahe, als wolle er sie sich wie eine köstliche Frucht in den Mund schieben“. Kurz darauf wird er so fahl, „als sei ihm die vernaschte Dame die Kehle hinuntergerutscht und dort stecken geblieben“.

Die Szene spielt in einer Villa am Wannsee in Berlin, für Larissa hat sie zur Folge, dass sie endlich Oskar von Niedermayer in ein Gespräch verwickeln kann, einen deutschen Offizier, den sie schon am Anfang des Buches im Jahr 1923 zu suchen beginnt, als sie in Afghanistan von seinem Vorschlag hört, das indische Volk gegen die britische Vorherrschaft zu stärken.

Vertraut mit Lenin und Trotzki

Das Buch ist den Ideen Larissa Reissners (1895–1926) gewidmet. Die Floskel „ein Leben wie ein Roman“ ist für die Revolutionärin, Spionin, Schiffskommandeurin und Schriftstellerin von legendärer Schönheit zu kurz gegriffen. Sie war mit etlichen Berühmtheiten ihrer Zeit vertraut, mit Lenin und Trotzki, mit Maxim Gorki, Boris Pasternak und Anna Achmatowa, sie pendelte zwischen Russland und Deutschland. Der später von Stalin hingerichtete Marschall Tuchatschewski verfällt ihrer Aura genauso wie der vietnamesische Staatspräsident Ho Chi Minh. Der deutsch-polnische Revolutionär Karl Radek wird ihr Lebenspartner für knapp drei Jahre, das ist lang.

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Steffen Kopetzky hat ein Faible für historische Stoffe. Zuletzt transportierte er mit „Monschau“ einen Pockenausbruch und seine Bekämpfung 1962 in Nordrhein-Westfalen in eine spannende Handlung. Hier nun versucht er alle Facetten des Daseins einer Frau zwischen Politik und Literatur zu fassen. Er überträgt die Vielgesichtigkeit seiner Figur auf die Struktur seines Romans. So wechseln Zeiten, Stil und die erzählerische Perspektive. Dabei wählt er zwar Reissners Beerdigung als roten Faden, wirkt in den Kapiteln zuweilen aber regelrecht getrieben, möglichst viele Namen unterzubringen.

Der Schriftsteller Steffen Kopetzky. Am Mittwoch, 20. September, liest er in Berlin.

Der Schriftsteller Steffen Kopetzky. Am Mittwoch, 20. September, liest er in Berlin.Jana Mai

Stilistischen Stolperern wie den „gequält dreinblickenden Schädel“, den „drahtigen Dramatiker“, die „Geister im Glück“ oder das bayerische Wort „Brotzeit“ für die Wodka-Beigaben stehen einprägsame Formulierungen gegenüber wie „ein paar abgemagerte Stunden Schlaf“ oder ein Blick, „als ob die Ewigkeit ein Foto von ihm machen würde“. Wer den süffig erzählten biografischen Roman „Radek“ von Stefan Heym von 1995 gelesen hat, dem mag der Name Reissner noch in Erinnerung sein. Ansonsten ist es Kopetzkys großes Verdienst, diese einst so schillernde, aber vergessene Figur ans Licht der literarischen Öffentlichkeit geholt zu haben.

Steffen Kopetzky: Damenopfer. Roman. Rowohlt Berlin, 2023. 448 Seiten, 26 Euro

Buchpremiere im Gespräch mit Thomas Böhm, 20.9., 20 Uhr, Pfefferberg Theater



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