Kleine Kohlebergbau-Stadt wird zum Hotspot im Ukrainekrieg



Kiew Eine kleine Kohlebergbau-Stadt an der Ostfront ist zu einem strategischen Hotspot im Kampf um die Provinz Donezk geworden. Wuhledar – was übersetzt etwa „Kohle-Geschenk“ bedeutet – liegt auf einem Hügel, einer der wenigen höheren Orte in der Gegend. Die ukrainischen Kräfte konnten bislang das Stadtzentrum halten, die russischen Invasoren sind in den Vororten positioniert.

Gelingt es den Angreifern, die Stadt einzunehmen, wäre das ein wichtiger Schritt hin zu einer Unterbrechung der ukrainischen Versorgungslinien. Nicht weit entfernt verläuft eine Fernstraße, eine wichtige Nachschubroute für die Verteidiger. Können umgekehrt die Ukrainer Wuhledar sichern, gäbe das ihnen eine potenzielle Startrampe für eine künftige Gegenoffensive in Richtung Süden. Mit anderen Worten: Wer diese Stadt in der Nähe der Verwaltungsgrenze der Provinz Donezk kontrolliert, hat einen taktischen Vorteil im Kampf um die Donbass-Region als Ganzes.

„Der Schwerpunkt der russischen militärischen Anstrengungen liegt in Donezk, und Wuhledar ist im Prinzip die südliche Flanke davon“, sagt Gustav Gressel, ein hochrangiger Experte im Berliner Büro der Denkfabrik European Council on Foreign Relations.

Die Stadt hatte vor dem Krieg 14 000 Einwohner, jetzt sind es nur noch etwa 300. Die Mehrheit der Bevölkerung arbeitete im Kohlebergbau oder in nahe gelegenen Fabriken – wie beispielsweise Olha Kyseliowa, bevor der Krieg alles änderte. Noch verbliebenen Einwohnern zufolge haben die russischen Truppen am 24. Januar damit begonnen, ihre Angriffe zu verstärken. An jenem Tag schlug eine Rakete im neunstöckigen Mietwohnungshaus ein, in dem Kyseliowa lebte. Sie suchte mit ihren drei Kindern Schutz im Keller und fand danach ihre Wohnung schwer beschädigt vor, mit einem gähnenden Loch in der Decke.

Das war der Augenblick, in dem sie sich schweren Herzens dazu entschloss, ihre Heimatstadt zu verlassen. „Ich habe auf dem ganzen Weg heraus geweint“, schildert sie. „Ich wollte nicht weggehen.“

Taktische Bedeutung der Stadt ist beiden Seiten klar

Drei ukrainische Brigaden sind in Wuhedar und seinen Ausläufern  stationiert. Die Nachrichtenagentur AP hat mit fünf Kommandeuren verschiedener Einheiten gesprochen, die alle entsprechend ukrainischer Militärregeln nur ihre Vornamen angaben. Russland hat nur etwa vier Kilometer entfernt Marineinfanteristen positioniert. Beiden Seiten ist die taktische Bedeutung der Stadt klar.

„Es ist einer der logistischen Hauptpunkte der Donbass-Region und auch einer der Hauptpunkte in höherer Lage“, sagt Maxym, Vizekommandeur eines ukrainischen Marineinfanterie-Bataillons. „Wenn sie Wuhledar erobern, können die Russen leicht die gesamte Region Donezk besetzen.“

Gresser zufolge wären die russischen Angreifer im Fall einer Einnahme der Stadt in der Lage, vorzurücken und die Versorgungslinien zur Front von Marinka zu bedrohen. Könnten umgekehrt die Ukrainer Wuhledar halten und stabilisieren, wäre das ein geeigneter Ausgangspunkt für künftige Gegenoffensiven in Richtung Mariupol und Berdjansk.

Von ihrer Position in der Stadt aus können die ukrainischen Kräfte in die russischen Linien blicken und waren bislang in der Lage, eine Umzingelung von Wuhledar zu verhindern. Kolonnen russischer Panzer und gepanzerter Fahrzeuge mit Infanteristen versuchen immer wieder, die russischen Verteidigungslinien zu durchbrechen. Die Stadt wird aus der Luft und vom Boden aus beschossen. „Aber dank unserer Kämpfer und unserer Antipanzer-Ausrüstung waren ihre Versuche nicht erfolgreich“, sagt Maxym, der Vizekommandeur. „Die Lage ist angespannt, aber kontrolliert.“

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Ähnlich wie an anderen Frontlinien im Osten der Ukraine verlieren die russischen Truppen zahlreiche Infanteristen bei dem Versuch, die ukrainischen Verteidigungslinien zu ermüden und zu schwächen. Serhij, der Kommandeur einer ukrainischen Aufklärungseinheit, hat nach eigenen Angaben gesehen, wie russische Soldaten direkt durch Felder geschickt wurden, die von den Ukrainern nach der russischen Einnahme des Dorfes Pawliwka südlich von Wuhledar im November vermint worden waren. „Sie räumen die Minen von unseren Feldern, indem sie ihre eigenen Leute benutzen.“

„Versuchen, unsere Schwachpunkte zu finden“

Zwei Kommandeure einer Brigade in Wuhledar berichten von russischen Geschossen mit Gas, das stundenlange schwere Desorientierung sowie Brennen in der Kehle und auf der Haut verursacht habe. „Sie testen uns entlang der östlichen Frontlinie, so auch in Wuhledar“, sagt Olexandr, ein anderer Kommandeur. „Sie versuchen, unsere Schwachpunkte zu finden.“

Bislang seien Russlands Aktivitäten rund um die Stadt vom operativen Standpunkt aus gesehen nicht bedeutend, meint die russische Analystin Kateryna Stepanenko von der in den USA beheimateten Denkfabrik Institute for the Study of War. Mehr Kampfkraft sei erforderlich, um die Durchbrüche zu bewirken, die nötig seien, um das erklärte Ziel der russischen Invasion zu erreichen – die Einnahme der gesamten Provinz Donezk.

Neue Gräber und Kreuze auf einem städtischen Friedhof in Bachmut

Wagner-Söldner und reguläre russische Truppen sind nach Einschätzung britischer Militärexperten in den vergangenen Tagen auf die ostukrainischen Städte Bachmut und Wuhledar vorgerückt.



(Foto: dpa)

Sogar wenn die Russen Wuhledar erobern würden, müssten sie eine Menge Kampfkraft aufbieten, um nordwärts vorzustoßen, erklärt Stepanenko. Schließlich hätten sie drei Monate nach der Einnahme des Dorfes Pawliwka immer noch keinen Durchbruch in Wuhledar erreicht, obwohl die Stadt nur vier Kilometer – eine sechsminütige Fahrt – entfernt sei.

Derweil sind die letzten der Einwohner Wuhledars fest zum Bleiben entschlossen, obwohl Olexandra Hawrylko, die Polizeisprecherin der Region Donezk, sie wiederholt beschworen hat, das verwüstete Gebiet zu verlassen. Die meisten der Verbliebenen verbringen ihre Tage in Kellern, kommen in Kampfpausen heraus, um ihre Handys aufzuladen und Versorgungsgüter an bestimmten Zufluchtspunkten in der Stadt – „unbesiegbare Zentren“ genannt – abzuholen.

Bis auf eine Ausnahme sind alle Minderjährigen aus Wuhledar woanders in Sicherheit gebracht worden, wie Hawrylko sagt. Der Vater eines 15-Jährigen weigere sich, sich von seinem Sohn zu trennen oder die Stadt zu verlassen. Einige wollten einfach nicht weg, „wir haben es viele Male versucht“, sagt Hawrylko. Die meisten hätten sich noch nie in ihrem Leben weit von ihrer Heimatstadt entfernt.

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