Kiews Drohnen verfehlen ihr Ziel


  1. Startseite
  2. Politik

Erstellt:

Von: Stefan Scholl

Der angebliche Explosionsball der vernichteten Drohnen über dem unbeschädigt wirkenden Kreml-Senat.
Der angebliche Explosionsball der vernichteten Drohnen über dem unbeschädigt wirkenden Kreml-Senat. © IMAGO/UPI Photo

Moskau behauptet, Kiew habe quasi ein technisches Wunder vollbracht mit dem angeblichen Angriff auf den Kreml. Die Bevölkerung rührt das wenig.

Es schienen zwei Volltreffer. Die beiden Kamikaze-Drohnen, die in der Nacht auf Mittwoch den Kreml anflogen, explodierten beide auf der Kuppel des Senatspalastes – im Abstand von nur wenigen Metern. „Wie der Einschlag einer Kugel in einer Kopekenmünze“, schreibt die BBC. Das offizielle Moskau spricht von einem Anschlag auf Wladimir Putin.

Viele Fachleute aber glauben, der Doppeltreffer auf dem Dach, bei dem die Präsidentenstandarte touchiert wurde, habe vor allem psychologisch gesessen. Es wird diskutiert, ob die Ukraine mit den zwei eher schwachen Explosionen den Kreml in seinen eigenen Mauern piesacken wollte. Oder ob Russlands Staatsmacht selbst die Attacke inszenierte, um das nur noch mäßig interessierte Volk neu für Putins Ukraine-Feldzug zu motivieren.

Laut der Zeitung „Kommersant“ handelte es sich bei den Drohnen vermutlich um UJ-22 ukrainischer Produktion, mit einer Spannweite von 4,6 Metern relativ kleine Flieger. Mit ein paar Kilo Sprengstoff als Last hätten sie Mühe gehabt, die 500 Kilometer von der ukrainischen Grenze bis Moskau zu schaffen. Der russische Luftwaffengeneral Sergej Lipowoj vermutete gegenüber der Radioagentur NSN, die Flugkörper seien von „als Flüchtlingen getarnten ukrainischen Agenten“ im Großraum Moskau zusammengesetzt und gestartet worden. Und Kremlsprecher Dmitrij Peskow behauptete, die Ukrainer:innen hätten mit dem Angriff auf den Kreml nur einen Befehl aus Washington ausgeführt.

Starpropagandist Wladimir Solowjow forderte wieder einmal atomare Rache, Ex-Präsident Dmitrij Medwedew den Tod des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Adolf Hitler habe man ja auch nicht für die Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation gebraucht …

Das US-amerikanische Institute for the Study of War aber schreibt, wahrscheinlich stehe die russische Staatsmacht selbst hinter den Einschlägen im Kreml. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass die zwei Drohnen unbemerkt mehrere Linien der dichten und treffsicheren Moskauer Luftabwehr hätten überwinden können, um dann über dem „Herzen des Kreml“ zu detonieren, von verschiedenen Kameras gefilmt. Aber andere Experten verweisen darauf, dass Russlands Abwehrsysteme für den Kampf gegen Düsenjäger und Raketen gedacht sind, auch die neuen „Panzir“-Komplexe, die erst im Januar im Raum Moskau aufgestellt wurden.

„Die klassischen Flak-Waffen haben große Probleme, kleine, niedrig und langsam fliegende Drohnen, die auch noch aus Plastikteilen bestehen, zu bemerken“, bestätigte der israelische Militärexperte David Scharp dem Kanal „TV Doschd“. Und die ukrainischen Drohnenattacken auf Russland häufen sich, allein in der Nacht auf Donnerstag wurden zwei Treibstofflager bei Rostow und Krasnodar getroffen.

Auch für Wladimir Putin könnte es gefährlich werden. Am 9. Mai nimmt der Staatschef auf dem Roten Platz die traditionelle Parade zum Tag des Sieges über Nazideutschland ab. Der „Tag des Sieges“ ist laut einer neuen Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM für 65 Prozent der Russinnen und Russen der wichtigste nationale Festtag. Und die Parade gilt als das zentrale Ritual des von Putin forcierten Kriegspatriotismus. Der einzige Vormittag im Jahr, von dem jeder schon vorher weiß, wo sich der Staatschef genau befinden wird. Er und sein Gefolge auf der Ehrenloge hätten allen Grund, vor einem unbemannten Kamikaze-Flieger zu zittern.

Der Politologe Andrej Kolesnikow winkt ab: Der Kreml habe den Nachtangriff selbst inszeniert. Um damit Putins Auftritt bei der Parade schon im Voraus zur Heldentat zu stilisieren. Sein Kollege Jurij Korgonjuk glaubt aber, für solch listenreiche Manöver mangele es Putins Apparat an Raffinesse. „Wenn auf Kremldächern Drohnen landen, ist das ein extrem schlechtes Zeugnis für unser Militär und unsere Sicherheitsorgane, eine schlimmere Antireklame kann man sich nicht ausdenken.“ Umgekehrt sei es für die Ukraine ideale PR, auch wenn sie dementiere, dass es ihre Drohnen waren: „Nach dem Motto: ,Wir prahlen nicht, wir handeln!‘“

Am Wernadskij-Prospekt im Südwesten der Hauptstadt, also in der potenziellen Einflugschneise der ukrainischen Drohnen, sitzt ein junger Hüne an einer Bushaltestelle. Mit Krücken, ihm fehlt ein Bein, sein rotes Gesicht ist vom Alkohol geschwollen. Daneben stehen zwei Frauen, sie reden angeregt über eine Ferienwohnung. Was sie von den Einschlägen im Kreml halten? „Was soll ich davon halten?“, fragt die eine. „Was ist denn da überhaupt passiert?“ Das Moskauer Volk ignoriert auch den Drohnen-Krieg.

Leitartikel Seite 15



Quellenlink https://www.fr.de/politik/kiews-drohnen-verfehlen-ihr-ziel-92255135.html