Kalifornien lässt „Drive Pilot“ zu


New York Es ist ein Durchbruch: Nach monatelangem Warten hat die kalifornische Verkehrsbehörde die Zulassung für den fortgeschrittenen Autopiloten „Drive Pilot“ von Mercedes-Benz erteilt. Die Schwaben erhalten damit in den USA die bisher weitreichendste Zulassung aller Autohersteller – und überholen damit auch Tesla.

Wie das California Department of Motor Vehicles am Donnerstag erklärte, darf Mercedes sein System auf Autobahnen unter anderem in der San Francisco Bay Area, Los Angeles und San Diego einsetzen. Das Besondere: Das System ermöglicht hochautomatisiertes Fahren auf dem sogenannten Level 3.

Praktisch heißt das, dass der Fahrer bei eingeschaltetem Autopiloten erstmals die Hände vom Steuer und die Augen von der Straße nehmen darf, etwa um E-Mails zu beantworten oder Videos zu schauen. Innerhalb von rund acht Sekunden muss er auf Aufforderung eingreifen. Die Haftung geht in der Zwischenzeit aller Voraussicht nach auf Mercedes über.

Die Schwaben sind damit für Privatautos weltweit führend. Bereits Anfang des Jahres hatten sie die Zulassung in Nevada erreicht, auch in Deutschland ist das Level-3-System freigegeben. Alle anderen fortgeschrittenen Autopiloten, darunter die Systeme „Full Self-Driving“ von Tesla und „Super Cruise“ von General Motors, erlauben lediglich Level 2: Fahrer müssen hier zu jeder Sekunde die Straßenlage überwachen und die Hände am Steuer behalten.

Mit der Zulassung habe Mercedes „einen weiteren Meilenstein erreicht“, sagte Mercedes-Technologievorstand Markus Schäfer dem Handelsblatt. Man könne den „Drive Pilot“ nun in den US-Markt bringen und „einen sehr großen Mehrwert für unsere US-Kunden generieren, da sie während der hochautomatisierten Fahrt Zeit gewinnen.“

Mercedes-Autopilot: Kalifornien als Leitmarkt

Die kalifornische Aufsicht hat dem Einsatz am Donnerstag enge Grenzen gesetzt. So darf das System nur auf dem Highway betrieben werden und bei starkem Verkehr oder im Stau, das heißt bei Geschwindigkeiten von bis zu 60 Stundenkilometern. Auch darf es nur tagsüber zum Einsatz kommen.

Dennoch ist die Zulassung ein wichtiger Schritt. Kalifornien – für sich betrachtet die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt – gilt zum einen als Leitmarkt. Die Entscheidungen der dortigen Aufsichtsbehörden haben Signalwirkung für viele andere US-Bundesstaaten.

Zum anderen ist Kalifornien ein wichtiger Markt für den Konkurrenten Tesla. Nach Berechnungen der Nachrichtenagentur Reuters steht der Bundesstaat für 16 Prozent der globalen Auslieferungen des Konzerns von Elon Musk. Autonome Fahrsysteme sind ein wichtiges Verkaufsargument.

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Während Tesla seine Chips selbst entwickelt, paktiert Mercedes beim autonomen Fahren mit Nvidia. Das Orin-System des US-Chipherstellers soll künftig die Rechenleistung aller Baureihen verbessern und auch höhere Autopilot-Geschwindigkeiten möglich machen.

Und während Musk bisher nur auf Kameras setzt und etwa den Einbau von Lasersensoren, sogenannten Lidaren, ablehnt, ist ein solcher gegen Aufpreis in der S-Klasse und im EQS von Mercedes verbaut, den ersten beiden Fahrzeugen mit dem neuen „Drive Pilot“. Zuletzt hatte Mercedes einen wichtigen Partner ausgetauscht: Die Lidare kommen künftig nicht mehr vom französischen Konzern Valeo, sondern von der US-Firma Luminar, die diese billiger anbietet. Diskutiert wird noch, in welchen weiteren Fahrzeugen die Technik verbaut werden soll.

Mercedes plant Ausweitung des Autopiloten-Systems

Die ersten mit dem System ausgestatteten Fahrzeuge sollen Ende 2023 ausgeliefert werden. Geht es nach Vorstand Schäfer, dann weitet Mercedes sein Angebot in den kommenden Jahren aus: „Wir waren die ersten mit einer Zertifizierung in Deutschland, die ersten in den USA und wollen hochautomatisiertes Fahren auch in weiteren Ländern einführen.“

Die Vorgaben unterschieden sich jedoch deutlich je nach Ort. Man beobachte die regulatorische Lage in anderen US-Bundesstaaten und Ländern „sehr genau“ und stehe mit vielen Behörden im Austausch, so Schäfer.

Technisch arbeite man bereits an einer Ausweitung des Systems. „Wir verfolgen einen auf Sicherheit ausgelegten Schritt-für-Schritt-Ansatz“, erklärt Schäfer. „So wollen wir bis Ende dieser Dekade die Verfügbarkeit auf der Autobahn in der letzten Ausbaustufe auf bis zu 130 Stundenkilometer erweitern.“

Auf dem Weg dahin seien „verschiedene Zwischenschritte“ vorstellbar: Ein guter Anwendungsfall könnte demnach sein, die Geschwindigkeit hinter einem vorausfahrenden Auto auf 90 Stundenkilometer zu erhöhen. Die Sicherheit stehe jedoch „an oberster Stelle.“ Neue Funktionen und höhere Geschwindigkeiten stellten „zusätzliche Anforderungen an die Sensorik, Software und das Sicherheitskonzept dar.“

Frage nach der Haftung

Ein heikler Punkt ist die Frage nach der Haftung. Offiziell trifft Mercedes hier keine eindeutige Aussage. „In den USA gibt es ein gut etabliertes Rechtssystem zur Bestimmung der Haftung auf Straßen und Autobahnen. Wir glauben, dass diese Regeln auch dann gelten, wenn der Drive Pilot eingesetzt wird. Mit anderen Worten: Die alten Regeln sind die neuen Regeln“, erklärt der Konzern auf Anfrage verklausuliert.

In Konzernkreisen heißt es, dass die Haftung innerhalb der acht Sekunden, die das System das Fahrzeug auch im Zweifelsfall vollautonom steuert, auf Mercedes übergehe. Jedoch, so die Einschränkung, gelte das nur in dem Fall, in dem das Auto in gut gewartetem Zustand sei und der Fahrer zum Beispiel nicht betrunken.

Phil Koopman, Professor an der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh und einer der Pioniere der Autopilot-Entwicklung, kritisiert die Haltung von Mercedes als „seltsam“: „Die Haftung sollte darauf beruhen, ob der Fahrer in einer angemessenen Zeit übernimmt, wenn er aufgefordert wird, die Kontrolle zu übernehmen. Und der Computer sollte die Stufe 3 nicht einschalten, wenn der Fahrer nicht in der Lage ist, die Kontrolle zu übernehmen“, sagt er.

„Wenn es zu einem Unfall kommt, während das automatisierte Fahren eingeschaltet ist, sollte die Haftung vollständig bei Mercedes-Benz liegen“, fordert Koopman.

Die US-Aufseher haben nach zahlreichen Unfällen zuletzt eine kritischere Gangart bei der Regulierung von Autopilot-Systemen einschlagen. So steht etwa Tesla zunehmend unter Druck.

Mehr: „Mein Autopilot hat mich fast umgebracht“: Tesla-Files nähren Zweifel an Elon Musks Versprechen

Erstpublikation: 09.06.2023, 03:05 Uhr.



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