Julian Nagelsmann soll Fußball-Bundestrainer werden: Projekt für zehn Monate

Dort, wo sich Hase und Igel gute Nacht sagen, liegt Zuzenhausen. Am Ortsrand hinterm kleinen Kreisverkehr, im Trainingszentrum der TSG Hoffenheim – nicht weit entfernt von Bammental, wo Hansi Flick zu Hause ist und die Verletzungen seiner Demission als Fußball-Bundestrainer auskuriert –, schauen sie gerade gebannt nach Frankfurt am Main.
Denn in Zuzenhausen, bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit sieben oder acht Autominuten von Hoffenheim entfernt auf der Landstraße Richtung Heidelberg gelegen, befindet sich auf den Wiesen eines alten Bauernhofes die Brutstätte des designierten Bundestrainers. Julian Nagelsmann war noch ganz schön milchgesichtig, als der Hoffenheimer Mäzen Dietmar Hopp und Sportchef Alex Rosen eine fußballhistorische Entscheidung trafen. Sie beförderten am 11. Februar 2016 einen erst 28-jährigen U19-Coach im tiefsten Abstiegskampf zum Nachfolger des erkrankt zurückgetretenen Huub Stevens. Und das, obwohl der ungestüme Bursche zu jenem Zeitpunkt zu allem Überfluss auch noch mittendrin in den Prüfungen zum Fußballlehrer steckte.
Nagelsmanns erste Teambesprechung war entscheidend
Nie zuvor hatten Verantwortliche eines deutschen Fußball-Bundesligisten eine derart verwegene Entscheidung getroffen. Derselbe junge Mann, der bis dahin noch vormittags das Tablet in der Hightech-Indoor-Trainingsmaschine Maschine Footbonaut bedient hatte, um Talente zu Passmaschinen auszubilden, wurde über Nacht als bis dahin (und seitdem) jüngster Bundesligatrainer ohne Schwimmweste ins Haifischbecken Profifußball geschubst. Und siehe da: Er schwamm.
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Nagelsmann hat später einmal gesagt, die erste Teambesprechung sei entscheidend gewesen, ob die Spieler ihn anerkennen oder nicht. Die Ansprache muss ihm weitgehend perfekt gelungen sein. Erst rettete er Hoffenheim vor dem Abstieg, dann führte er den Dorfklub schnurstracks in die Qualifikation zur Champions League. Von den beiden Spielen gegen den FC Liverpool im August 2017 reden sie im Kraichgau noch heute wie von der Landung eines Ufos.
Mittlerweile ist Nagelsmann nicht mehr 28, sondern 36, seine Züge sind herber geworden, der Erfolg mit Hoffenheim, RB Leipzig und dem FC Bayern hat zu einer unübersehbaren Hybris geführt und außerdem dazu, dass er sehr, sehr viel Geld verdient – und beim Antritt ins Hochamt für Fußball-Deutschland auf einen mutmaßlich zweistelligen Millionenbetrag verzichten müsste. Denn bisher war nach seiner Freistellung im März sein bis 2026 gültiger Vertrag beim FC Bayern noch nicht aufgelöst worden, der ihm jährlich dem Vernehmen nach bis zu acht Millionen Euro sicherte.
Folgende Grundsatzentscheidung mussten Nagelsmann und sein Kölner Berater Volker Struth also erst einmal gemeinsam treffen: Sollte Nagelsmann bereit sein, für mehr Arbeit und viel mehr Verantwortung auf einen schönen Batzen Geld zu verzichten? Die Antwort lautete bald: Ja, das sollte und wollte er. Denn der Nagelsmann-Seite war klar, dass der DFB keinesfalls in der Lage sein würde, einem neuen Bundestrainer mehr als 400.000 Euro im Monat zu überweisen. Im Grunde übersteigt schon das die Schmerzgrenze des Verbands. Zumal ja auch Hansi Flick noch vertragsgemäß bis Sommer 2024 versorgt werden muss und die Abfindung für Oliver Bierhoff die Bilanz ebenfalls belastet.
Der DFB vermeldet: „Wir sind in guten Gesprächen.“
Nachdem dem DFB die Bereitschaft von Nagelsmann übermittelt worden war, begannen sogleich die Gespräche. Am Montag vermeldete Präsident Bernd Neuendorf, man sei schon ein gutes Stück vorangekommen, nannte aber noch keinen Namen. Am Dienstagmittag berichtete dann zuerst die Bild-Zeitung von einer zeitnah bevorstehenden Einigung mit Nagelsmann für zunächst einen Zehn-Monats-Vertrag als Projektleiter bis zur EM 2024. Der DFB sah sich daraufhin veranlasst, etwas Tempo aus der medial aufgeheizten Angelegenheit zu nehmen. Er informierte eilig, dass es zu einem ersten persönlichen Treffen von Neuendorf und Sportdirektor Rudi Völler mit Nagelsmann gekommen ist. „Wir sind in guten Gesprächen.“ Diese sollen in den kommenden Tagen fortgesetzt werden.
Die Causa stellte prompt die erste Pressekonferenz der Frauen-Nationalmannschaft nach der Abreise von der WM aus Australien in den Schatten. Eine aufgrund des offensichtlichen Durchstechens an den Boulevard zwar bedauerliche, aber unvermeidliche Entwicklung in aufgeregten Zeiten.
Der FC Bayern hatte bereits im Vorfeld wissen lassen, dass er bereit ist, auf eine Ablöseforderung für Nagelsmann zu verzichten, für den er noch im Sommer 2021 mehr als 20 Millionen Euro an RB Leipzig überwiesen hatte, um mit dem Ur-Bayern eine neu Ära zu prägen. Der Plan sollte sich in dem notorisch unruhigen Umfeld, in dem der junge Coach kaum Hilfe von den zunehmend angeschlageneren Vorgesetzten Hasan Salihamidzic und Oliver Kahn erfuhr, kapital misslingen. Salihamidzic und Kahn setzten Nagelsmann vor die Tür, auch um erfolglos ihren eigenen Arbeitsplatz zu sichern. Mit Nachfolger Thomas Tuchel ist bisher indes nichts besser geworden, ganz im Gegenteil. Kaum war Tuchel da, scheiterte der FC in DFB-Pokal und Champions League.
Auf die ersten Trainereinsätze für den DFB muss der als ungeduldig bekannte Nagelsmann noch einen Moment warten. Am 14. Oktober (21. Uhr/ MEZ) debütiert er im Testspiel in East Hartford gegen die USA.