Hass kann ein Werkzeug sein, „eine Methode der Selbstverteidigung“


Die Autorin antwortet auf ihr erstes Buch „Radikale Zärtlichkeit“ nun mit „Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls“. Sie analysiert die Gesellschaft. 

Die Autorin Şeyda Kurt. Am 28. März liest sie in Berlin im Silent Green.

Die Autorin Şeyda Kurt. Am 28. März liest sie in Berlin im Silent Green.Harriet Meyer

Es brauche nicht viel, um zu hassen, schreibt Şeyda Kurt in „Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls“. Eine Erfahrung als Körper in der Welt, ein Objekt, gegen das der Hass sich richtet. Eine Fixierung auf dieses Objekt – meist aus der unterlegenen Position. Und einen langen Atem. Knirschend und zersetzend sei der Hass, schreibt Kurt. Eine Definition bleibt sie bewusst schuldig. Dafür, sagt sie, gebe es zu viele Spielarten von Hass.

Es ist das zweite Buch der Autorin. In ihrem Erstlingswerk „Radikale Zärtlichkeit“ hatte Kurt zwei Jahre zuvor das Konzept der romantischen Liebe auf seine patriarchalen, kolonial-rassistischen, kapitalistischen und deshalb unterdrückerischen Aspekte hin abgeklopft und dekonstruiert. Statt asymmetrischer Liebe forderte sie „Zärtlichkeit als politische Praxis“ und eine „radikal zärtliche Gesellschaft, in der sich die politischen Verhältnisse in einer Weise gestalten müssen, dass alle Menschen über die Ressourcen verfügen, sich einander zuzuwenden, ihre Beziehungsweisen zu politisieren und sich in ihrer Abhängigkeit anzuerkennen“.

Der Hass hat aufrührerisches Potenzial

Nun also der Hass. Die Kehrseite der Medaille. Wieder arbeitet sich Kurt an der politischen Bedeutung eines Gefühls ab. Nur dass dieses Gefühl diesmal nicht annähernd so gefällig oder versöhnlich ist. Im Gegenteil: Der Hass hat aufrührerisches, umstürzlerisches Potenzial. Er entlarvt, sabotiert, begehrt auf, er erwartet und verlangt Besserung. Genau nach diesen Aspekten sucht Kurt explizit, wenn sie Geschichte, Philosophie und Literatur ebenso wie türkische Filme und Serien und Disneyfilme nach Spuren und Darstellungsformen von widerständigem Hass auf ihre Brauchbarkeit hin durchsucht.

Fündig wird sie bei antifaschistischen Jüdinnen und Juden, bei Partisanen-Brigaden der Sinti und Roma ebenso wie bei der chilenischen Freiheitskämpferin Luisa Toledo Sepúlveda, im kurdischen Widerstand und in Rojava.

Mit diesem Buch wolle sie etwas geraderücken, schreibt Kurt gleich zu Beginn, weil sie befürchtete, „als Herzchenhippie in Erinnerung zu bleiben“. Man kann „Hass“ also als Auflehnung gegen die Versöhnlichkeit und Nachsicht verstehen, die der Zärtlichkeit in ihrem ersten Buch noch innewohnte, als eine Art Klarstellung, dass an Kurts Gesellschaftskritik trotz aller Zärtlichkeit nichts niedlich ist. Denn ohne erbitterten politischen Kampf um Ressourcen, Gestaltungsmacht und Privilegien wird die gerechtere Gesellschaft, die Kurt hoffnungsvoll skizziert, nicht möglich sein. Und für diesen Kampf braucht es einen Motor, ein Feuer. Es braucht den Hass auf das ungerechte System.

„Hass“ ist kein durchgehender Essay, eher ein kunstvoll kuratiertes Archiv aus Fundstücken und Fragmenten, die in der Zusammenschau zeigen, wie verschiedene Formen des Hassens nebeneinander existieren. In zwei Teilen – überschrieben mit „Hass“ und „Hassen“ – vereint Kurt collagierend Erzählungen, Lyrik, Beschreibungen literarischer Figuren, fiktive Unterhaltungen, Zitate, Nachrichtenmeldungen und wiederkehrende Gedankenschnipsel zu einem eindringlichen Chor an Stimmen, die sie durch die Jahrhunderte, in Realität und Fiktion und über verschiedene Kontinente hinweg zusammengetragen hat. Ihre eigenen Erfahrungen und Erinnerungen fließen dabei nur in kurzen Momentaufnahmen ein. Während sie im ersten Teil (Hass) als eine Art Bestandsaufnahme verschiedene Modi des Hasses durchdekliniert, buchstabiert Kurt im zweiten Teil das widerständige „Hassen“ als revolutionierende Praxis aus.

Der Hass, der allgegenwärtig aus Artikeln, Kommentarspalten und sozialen Netzwerken quillt, der Hass, der im System steckt, wie der Teufel im Detail, der Hass, den Rassisten in und außerhalb der Parlamente perpetuieren und der sowohl in alltäglichen Kleinigkeiten als auch in grausamen Taten auf vulnerable Menschen zielt, ist für Kurt bestenfalls Kulisse. Die Perspektive der Täter, die auf Opfer blicken, interessiert sie nicht, weil in dieser Blickrichtung das „Tun“ und damit die Handlungsmacht bei den Tätern verbleibt. Kurt bittet stattdessen diejenigen auf die Bühne, denen in anderen Kontexten oft kein komplexes Gefühlsleben zugestanden wird – erst recht kein Hass.

Kurt, 30 Jahre alt, Journalistin, Autorin und Moderatorin aus Köln mit „klassischer Gastarbeiter:innengeschichte“, wie sie sagt, schreibt aus einer Perspektive, die für große Teile der weißen Mehrheitsgesellschaft wahrscheinlich bis heute im von Privilegien und Gleichgültigkeit verdeckten toten Winkel liegt. Sie schreibt aus der Perspektive der Marginalisierten, Bedrohten und Unterdrückten. „Mich interessieren jene, die hassen mussten“, schreibt sie. Auch deshalb, weil der Rechtsstaat sie nicht schützt. „Widerständige Schwarze, rassifizierte Menschen, Jüdinnen:Juden, arme Menschen und Arbeiter:innen, queere Menschen, weibliche und marginalisierte Geschlechter. Revolutionäre. Menschen in Befreiungs- und Klassenkämpfen.“ Dabei ist ihr Analysewerkzeug stets intersektional, queerfeministisch, dekolonial, antirassistisch und antikapitalistisch. Ausdrücklich aber geht es ihr nicht um das reine Betroffensein. Kurts Anliegen ist systematische Kritik.

Die Idee einer radikal zärtlichen Welt

Klug und feinsinnig analysiert Kurt, wer in unserer Gesellschaft hassen darf. Und wer nicht. Und wer trotz all des Hasses um jeden Preis friedlich bleiben soll, um die Ordnung nicht zu stören. Auch das hat selbstverständlich mit Macht zu tun. Und sie erforscht, welches transformative Potenzial der Hass der Unterdrückten mit sich bringt. So wird der Hass in seiner widerständigen, revolutionären, lebenserhaltenden Kraft im Kampf für eine gerechtere Welt zum Empowerment. Kurt wird den Hass im Laufe ihrer analytischen Annäherung also rehabilitieren.

Kurts Antwort und Programm schließlich sind etwas, das sie „strategischen Hass“ nennt. „Ein Werkzeug, eine Methode der Selbstverteidigung“, „ein Versprechen an eine Zukunft, die lebenswert ist“. Weiterhin strebt Şeyda Kurt also eine bessere, eine radikal zärtliche Welt an, in der es unterdrückende Strukturen und Institutionen – und damit Gründe, um zu hassen – schlicht nicht mehr gibt. Was es dafür brauche, seien eine abolitionistische Revolution und transformative Gerechtigkeit. Wer daran mitarbeiten will, kann aus Kurts Buch eine Menge Kraft schöpfen. Denn „Hass“ ist ein im besten Sinne revolutionäres Buch.

Şeyda Kurt: Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls. Harper Collins, Hamburg 2023. 208 S., 18 Euro



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