Großbritannien – Truss oder Sunak sollen Johnson nachfolgen


Die beiden Tory-Kandidaten für die Stichwahl: Außenministerin Liz Truss und Ex-Finanzminister Rishi Sunak

Die beiden Tory-Kandidaten für die Stichwahl zur Johnson-Nachfolge: Außenministerin Liz Truss und Ex-Finanzminister Rishi Sunak. Am 5. September soll der Sieger feststehen. (AFP / TOLGA AKMEN, DANIEL LEAL (Collage))

Johnson war durch eine parteiinterne Revolte am 7. Juli zum Rücktritt als Parteivorsitzender gezwungen worden, was auch das Aus für sein Regierungsamt bedeutet. Bis eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger gefunden ist, will Johnson die Amtsgeschäfte weiterführen. Der neue Parteivorsitzende und damit auch neue Premier soll nach der Sommerpause des britischen Parlaments am 5. September benannt werden.

Wer neuer Premierminister wird, entscheiden die Tories parteiintern, das heißt, der Premier wird nicht im Unterhaus gewählt, sondern von etwa 100.000 Tory-Mitgliedern. Ursprünglich hatten elf Parteimitglieder ihre Bewerbung für den Tory-Vorsitz und damit für das Amt des Premiers abgeben. Acht Kandidaten und Kandidatinnen wurden zum Auswahlverfahren zugelassen. Aus diesen haben die Tory-Abgeordneten in mehreren Wahlrunden zwei Kandidaten ermittelt.

Die letzte Wahlrunde fand am 20.07.22 statt. Durchgesetzt haben sich Ex-Finanzminister Rishi Sunak (137 Stimmen), der bislang in allen Abstimmungen vorne lag, sowie Außenministerin Liz Truss (113 Stimmen). Ausgeschieden ist bei der Abstimmung Handels-Staatssekretärin Penny Mordaunt (105 Stimmen).

Die Parteimitglieder der Tories sollen nun nach der Sommerpause per Briefwahl darüber entscheiden, wer von den beiden verbliebenen Kandidaten Johnsons Nachfolge antritt. Am 5. September schließlich soll der neue Parteivorsitzende benannt werden, der zugleich das Amt des Regierungschefs übernimmt.

Die britische Regierung hatte am 18.07.22 zudem eine von ihr selbst angesetzte Vertrauensabstimmung überstanden. Die Mehrheit der Unterhaus-Abgeordneten sprach ihr wie erwartet das Vertrauen aus. Auch Gegner von Premierminister Johnson innerhalb der Fraktion der Konservativen Partei wollten wegen schlechter Umfragewerte vermeiden, dass es im Fall einer Niederlage bei der Vertrauensabstimmung zu der dann unausweichlichen Neuwahl des Parlaments kommt.

Warum Johnson noch bis Anfang September im Amt des Premierministers verweilen will, darüber wird heftig spekuliert. Eine Möglichkeit: Johnson und seine Frau Carrie planen für Ende Juli eine nachgezogene Hochzeitsfeier in Chequers, dem offiziellen Landsitz der britischen Premierminister in der Grafschaft Buckinghamshire. Dafür müsste Boris Johnson aber auch noch im Amt sein, um in dem Herrenhaus den Gastgeber zu geben. Nach Angaben der BBC wird für die Feier aber mittlerweile ein neuer Ort gesucht.

Die britischen Konservativen stehen vor der Frage, ob sie ihren populistischen Kurs der vergangenen Jahre fortsetzen wollen – die Fraktion gilt als eher pragmatisch, wohingegen die Tory-Basis als sehr konservativ gilt.

Einige der ursprünglich elf Nachfolge-Kandidaten für Johnson sind aus dem Ausland nach Großbritannien eingewandert oder stammen von Einwanderern ab und die Hälfte ist weiblich. Wer vor diesem Hintergrund erwartet, dass der neue Premierminister oder die neue Premierministerin eine liberalere Politik machen wird als der Amtsinhaber, liegt falsch. Die Tories haben im Zuge des Brexit in den vergangenen Jahren ihren rechten Flügel ausgebaut.

Viele Kandidaten gelten als Hardliner beim EU-Austritt und in ihrem jeweiligen Politikfeld. Wichtigstes Thema im parteiinternen Wahlkampf ist die Finanzpolitik. Der derzeitige Favorit, Rishi Sunak, hat als Finanzminister das Geld zusammengehalten und sogar Steuern erhöht. Sunak hat damit argumentiert, dass sonst öffentliche Aufgaben wie die Gesundheitsversorgung der Bürger nicht bezahlbar seien. Mit dieser Haltung steht er ziemlich allein da. In Interviews haben bereits viele seiner Konkurrenten um das Amt des Premierministers versprochen, die Steuern zu senken. Wie sie das gegenfinanzieren möchten, haben sie noch nicht gesagt.

Britischer Finanzminister Rishi Sunak, neben ihm hängt die britische Flagge.

Der britische Finanzminister Rishi Sunak gilt zurzeit als Favorit (Justin Tallis/Pool via AP/dpa)

Einige Kandidaten wurden über ihre Meinung zu rechtspopulären Regierungsprojekten wie der Abschiebung von Bootsflüchtlingen nach Ruanda und das Gesetz zur einseitigen Veränderung des Nordirland-Protokolls befragt. Alle Befragten haben klar ausgesagt, dass sie daran festhalten wollen. Das gilt sogar für diejenigen unter ihnen, die 2016 gegen den Brexit gestimmt haben und auch bei anderen politischen Themen der Mitte der Partei zugerechnet werden. Die Kandidaten setzen offenbar weiterhin auf Zustimmung auf dem rechten Flügel ihrer Partei und der Wählerschaft.

Eine funktionierende Regierung gibt es derzeit kaum noch, da zu viele Minister und Staatssekretäre aus Protest gegen Johnson zurückgetreten sind. So hat die britische Regierung in den vergangenen Wochen mehr als 50 hohe Beamte verloren. Einige Ministerien sollen bereits verwaist sein. Und diejenigen Regierungsmitglieder, die noch nicht gegangen sind, drängen den Premier weiterhin zum Rücktritt.

Die Tories, die konservative Partei, gelten als sehr gespalten. Als Partei des Brexits gebe es zwei unterschiedliche Strömungen in der Partei, sagte der Historiker Dominik Geppert im Dlf.

Die eine Hälfte der “Brexiteers” stehe für niedrigere Steuern, weniger Regulierung und mehr freien Markt. Sie wolle Großbritannien in ein “Singapur in der Nordsee” verwandeln. Die andere Hälfte sei protektionistisch, eher isolationistisch und plädiere für ein England, welches sich gegen den Rest der Welt abschottet.

Johnson habe diese tiefe Spaltung bei den Konservativen mit seinem Charisma und seinen Witzen ein bisschen übertünchen können, aber diese Widersprüche und Gegensätze werden nun mit aller Macht aufbrechen, prognostizierte Geppert.

Kritiker werfen der Partei zudem vor, keinerlei Lösungen für die großen Probleme, wie den Brexit, das Nordirland-Protokoll oder die wirtschaftliche Situation im Land zu haben. Aber die Probleme der Partei werden sich nicht alleine davon lösen, dass sich die Partei von Johnson distanziere, sagte etwa der Politikwissenschaftler Johann Dvorak (Universität Wien).

In Bezug auf das Nordirland-Protokoll hinterlässt Johnson nach Ansicht des Journalisten Derek Scally von der “Irish Times” eine verfahrene Situation. Johnson habe das Thema ohne Not ideologisiert, sodass ein Nachgeben in dem Sinne interpretiert würde, dass Großbritannien damit erneut zum „Vasallenstaat der EU“ werde. Damit habe er viel Schaden angerichtet.

Das Thema stoße aber in der britischen Politik generell auf wenig Interesse, so Scally. Er glaube nicht, dass es im Kampf um Johnsons Nachfolge eine große Rolle spielen wird: „Nordirland ist ein Barometer, wenn es nichts Anderes zu besprechen gibt.“ Kaum einer der Kandidatinnen und Kandidaten habe dazu bislang Position bezogen. Auf den neuen nordirischen Premier Paul Givan von der Democrat Unionist Party (DUP) setze er ebenfalls wenig Hoffnung. In den vergangenen Jahren habe es niemanden mit Sachverstand und Empathie gegeben. Dabei wäre so jemand wichtig, um die verfahrene Situation zu retten.

Erschwerend kommt hinzu, dass Johnson keines seiner Wahlversprechen von 2019 eingelöst hat, was auch der Tory-Partei angekreidet wird. Damals hatte Johnson versprochen, den Norden des Landes zu stärken und dass durch den Brexit alles besser würde. Beides ist nicht eingetreten.

Zudem hat die Partei ein Nachwuchsproblem. Johnson habe sehr fähige Politiker aus der Partei gedrängt, sagte der Politologe Holger Hestermeyer vom King’s College London im Deutschlandfunk. Die Frage sei, ob die Partei zu ihrem ehemaligen Status als großer Volkspartei zurückfinde. Zu befürchten sei jedoch, dass sich die Tories weiter radikalisieren, sagte Hestermeyer.

Ausschlaggebend für das Scheitern Johnsons ist der schwindende Rückhalt in seiner Partei. Seine zahlreichen Skandale haben die britischen Konservativen zuletzt Wählerstimmen gekostet, immer mehr Tories waren der Ansicht, dass mit Johnson als Premier kaum noch Wahlen zu gewinnen sind.

Unter Druck geraten war Johnson aufgrund einer Serie von Skandalen in der Regierung und seinem Umgang damit. Unter anderem gab es polizeiliche Ermittlungen wegen Verstößen gegen Corona-Regeln. Zuletzt ging es um Vorwürfe der sexuellen Belästigung durch ein führendes Mitglied seiner konservativen Tory-Regierungsfraktion. Zunächst hatte Johnson erklärt, von solchen Vorwürfen nichts gewusst zu haben. Später teilte er mit, ihm seien die Informationen zwischenzeitlich entfallen.

“Die ganze Zeit, seit dem Boris Johnson an der Macht ist, hatten wir nur diese Psychodramen, ein Skandal nach dem anderen, ein Premierminister, der absolut unfähig ist, die Wahrheit zu sagen”, sagte Ben Bradshaw von der oppositionellen Labourpartei im Dlf.

Johnson selbst hatte sich am 20.07.22 in einer letzten Fragestunde im Parlament von den Abgeordneten verabschiedet. Mit Blick auf den Brexit erklärte er, sein Land habe die Unabhängigkeit wieder hergestellt. Zudem habe er während seiner Amtszeit geholfen, die Corona-Pandemie zu bewältigen. 

Quellen: Christine Heuer, dpa, bu, al



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