Erinnerungen an den Karneval der Kulturen


An diesem Wochenende und nach drei Jahren Pandemiepause findet wieder der Karneval der Kulturen statt. Endlich! Endlich? Wo die einen ein Fest der Vielfalt und Toleranz feiern, ausgelassen tanzen und ausgiebig trinken, haben andere Probleme mit dem Konzept und der seit Jahren wachsenden Kommerzialisierung.

Ist das Straßenfest in Kreuzberg gar keine Friede-Freude-Eierkuchen-Utopie, sondern eher ein Karneval der Kulturaneignung? Und sollte es am besten aus dem Eventkalender gestrichen werden? Um diese Fragen soll es hier  nicht gehen. Stattdessen haben sechs Autorinnen und Autoren in ihren Erinnerungskisten gekramt. Gefunden haben sie dabei nicht nur Sambatänzer, Technowagen und Shishapfeifen.


Tanze Samba mit mir!

Kann es sein, dass wir alle noch keine Handys hatten? Oder gab es auf dem Karneval der Kulturen einfach nur immer keinen Empfang? Ganz sicher hatten wir keine Smartphones, mit denen wir einander unseren Standort schicken konnten. Wir verabredeten uns vorher grob. Und mussten dann hoffen, dass wir uns in den Massen finden.

Das klappte immer. Ich musste nur eine Weile am Südkreuz herumstehen, ein bisschen mitlaufen, mich durch ein paar Gruppen schieben, dann waren meine Freunde da. Wir sammelten einander auf. Alle, die gesagt hatten, dass sie kommen wollen, kamen. Niemand checkte seine Nachrichten, filmte, postete. Ich habe nicht ein einziges Karneval-Foto, aus keinem Jahr, weil niemand fotografierte. Ich weiß, dass ich uralt klinge, wenn ich das schreibe, aber im Nachhinein kommt es mir wie eine magische Zeit vor.

Alle so schön bunt hier: Zwei Besucherinnen freuen sich über das Straßenfest.

Alle so schön bunt hier: Zwei Besucherinnen freuen sich über das Straßenfest.Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Der Karneval der Kulturen war das einzige Großereignis in Berlin, das meine Freunde und ich in jedem Jahr besuchten. Ende der 90er-, Anfang der Nullerjahre. Obwohl wir alle aus Berlin kamen und so etwas, also Großereignisse, eigentlich mieden. Ich weiß nicht mehr, warum wir hingingen. Weil in Berlin immer an diesem Wochenende Sommer wurde, weil die Musik auf manchen Wagen gut war? Ich mochte die Sambatänzer. Es kann sein, dass ich mich vordrängelte, um sie besser zu sehen und, ja, mitwippte. Auch wenn ich jetzt noch älter klinge. Wiebke Hollersen


Hoch oben auf dem Wagen der Bar25

Es war so schön einfach, das Leben mit Anfang 20 in Berlin. Wie schaffe ich es, die halbe Woche in der Bar25 zu verbringen – und trotzdem nicht aus der Uni zu fliegen? Das waren die beiden Kernfragen, die diese meine wilden Jahre prägten. Und rund 15 Jahre später kann ich sagen: Beides geschafft, immerhin.

Meine Dauerpräsenz im abgenudelten Technoclub am Spreeufer, lange bevor an selber Stelle der furchtbar provokante Holzmarkt samt „Mörchenpark“ entstanden war, hatte mir einige Annehmlichkeiten und eine lose Wochenendfreundschaft mit der legendären Türsteherin Steffi eingebracht. Irgendwie so muss es auch gekommen sein, dass ich eines schönen Pfingstsonntags auf dem Karneval der Kulturen mitfahren durfte: Hoch oben auf dem Wagen der Bar25. Es muss im Jahr 2008 oder 2009 gewesen sein, so ganz genau weiß ich das aus gegebenem Anlass nicht mehr.

Caipis en masse: Für Flüssiges ist auf dem Straßenfest stets gesorgt.

Caipis en masse: Für Flüssiges ist auf dem Straßenfest stets gesorgt.Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Verpeiltheit verpflichtet, und so war ich natürlich auch zur Abfahrt nicht rechtzeitig gekommen. Etwa einen Kilometer schwankte und tänzelte ich dem Wagen hinterher, bis ich es endlich direkt an den rollenden Koloss geschafft und den darauf Feiernden mit meinem Bar-Bändchen bedeutet hatte, dass auch ich eigentlich oben mittanzen und mitwinken sollte.

Irgendjemand hob mich dann hoch – mit meinem damals dürren Feierkörper war das noch möglich – und ich konnte endlich meinen Platz im Kreise der Karnevalisten einnehmen. An die eigentliche Fahrt habe ich nur noch fragmentierte Erinnerungen; es lief Techno, natürlich, zum Konsumieren kniete man sich einfach nonchalant auf den Festwagenboden. Das einzige, was ich noch mit Sicherheit sagen kann: Nach dem Umzug sind wir alle zusammen weitergezogen – in die Bar25, ist doch klar. Manuel Almeida Vergara


Nicht stehenbleiben, es könnte nass werden

Vorsicht vor blauen Klamotten! Sie könnten plötzliche Nässe von oben bedeuten. Falls sich Zuni unter den kulturellen Karnevalisten befinden. Sie kommen aus Nordamerika und führen an jedem 19. August einen Regentanz auf, bläulich gekleidet. Es handelt sich um reine Spekulation, aber möglicherweise mischen sie sich auch regelmäßig unter das tanzende Völkchen zu Pfingsten in Berlin, denn regelmäßig schüttet es an diesem Termin mindestens einmal wie aus Kübeln. Gefühlt jedenfalls.

So einen Regentanz bekommt natürlich jeder selbst hin, mit ein wenig Fantasie und viel Gefühl. Er geht ungefähr so: Frauen und Männer stellen sich getrennt voneinander in zwei Reihen auf und vollführen Figuren; Rasseln und Schellen imitieren das Geräusch von Wasser. Solo funktioniert das auch. Zumindest schwören einige Bulgaren und Rumänen drauf. Sie lassen ein Mädchen durch ihr Dorf tanzen. Es bleibt vor jedem Haus stehen, wo es die Bewohner mit Wasser begießen. Offensichtlich ein Riesenspaß, jedoch sollte man sich den jetzt in Berlin wohl besser nicht gönnen. Es könnte zu Missverständnissen kommen angesichts einer nicht unerheblichen Zahl an tanzenden Mädchen und Häusern, die zum Stehenbleiben einladen – einerseits.

Der Karneval verleiht Flügel: Auch Kinder kommen in Kreuzberg stets auf ihre Kosten.

Der Karneval verleiht Flügel: Auch Kinder kommen in Kreuzberg stets auf ihre Kosten.Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Andererseits: Wer will das schon beim Karneval der Kulturen: stehenbleiben? Und Regen? Wohl die wenigsten. Die Wettermodelle entsprechen zum Glück der Mehrheitsmeinung. Sie sagen Temperaturen um 25 Grad und Sonnenschein voraus. Es kann aber nicht schaden, die blauen Klamotten im Kleiderschrank zu lassen. Christian Schwager


Berlin war mal bunt, und wir fanden das gut

Über Corona, Zeitenwende, Krieg und Inflation hat man ja schon fast vergessen, dass Stadt auch Spaß machen kann. So unfassbar ernst sind die Themen heute geworden. Es wird auch mehr gestritten und weniger getanzt. Aber das war mal ganz anders. Erinnert ihr euch?

Berlin war jahrelang fest in der Hand einer Spaßgesellschaft. In der Rückschau habe ich das Gefühl, dass in den 90ern und 2000ern kaum einer gearbeitet hat – und wenn doch, dann musste auch die Arbeit Spaß machen. In der Freizeit eskalierte man und kümmerte sich nicht um die Tomaten im Garten: Parade der Liebe mit Volldampfbeschallung, Sex im Park beim CSD, Gruppenkiffen im Mauerpark, Randalegucken beim 1. Mai, und auch der Karneval der Kulturen stand noch nicht im Verdacht kultureller Aneignung.

Damals versuchte man, dem Trubel auch mal zu entkommen und entwickelte noch keinen Ehrgeiz darin, bloß keine der seltenen Gelegenheiten zu verpassen. Jahrelang bin ich sogar übers Wochenende weggefahren, wenn die Loveparade durch den Tiergarten wummerte. Karneval der Kulturen und CSD habe ich beruflich besucht. Und was soll ich sagen, ich fand’s dann ganz schön – besonders beim Karneval.

Jetzt wird's ernst: Nicht allen zaubert der Karneval der Kulturen ein lächeln aufs Gesicht.

Jetzt wird’s ernst: Nicht allen zaubert der Karneval der Kulturen ein lächeln aufs Gesicht.Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Die Schlachtrufe entfesselter Leidenschaft. Trommler, die ihren Sound auf alten Fässern erzeugten. Irrwitzig aussehende Gefährte, aus Einkaufswagen zusammengeschraubt. Maskeraden aus Nigeria mit Tänzern, die über komplizierte Konstruktionen in kürzester Zeit auf vier Meter wachsen konnten. Der ganze Titicacasee auf einem Festwagen. Gruppen, die mit 70 Tänzern irre Choreografien auf die Kreuzberger Straßen zauberten.

Vielleicht ist die Zeit für so was ja einfach vorbei. Aber schade wär’s schon. Berlin war mal bunt, und wir fanden das gut. Auch wenn wir damals viel gemeckert haben. Ich war schon lange nicht mehr beim Karneval der Kulturen, aber jetzt überlege ich. Es braucht wieder mehr Farbe in der Stadt. Und es sollte definitiv mehr getanzt werden. Julia Haak


Die erste eigene Wasserpfeife

Vor zwölf Jahren – also 2011 – verschlägt es mich zum zweiten Mal auf den Karneval der Kulturen. Statt für die anstehenden Mathe- und Deutschprüfungen zu pauken, ziehe ich am Pfingstsonntag mit Schulfreunden durch Kreuzberg. Montag ist Feiertag, die Schule fällt aus, also haben wir aufgeregt die ersten zwei, drei Biermixgetränke zu uns genommen. Gut haben wir uns gefühlt, fast schon erwachsen. 16 Jahre alt waren wir.

Besonders von den vielen Verkaufsbuden aus aller Welt sind wir beeindruckt. Ob die coole Caipirinha-Bar mit brasilianischer Musik im Samba-Style – ein Glück hat der Verkäufer nicht nach unseren Ausweisen gefragt – oder der Stand von Tante Wera mit polnischer Wurst und ungarischem Gulasch. Doch das Highlight sollte erst noch folgen.

Heute noch was vor? Viele Besucherinnen und Besucher ziehen nach dem Umzug weiter.

Heute noch was vor? Viele Besucherinnen und Besucher ziehen nach dem Umzug weiter.Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Zwei junge Marokkaner, etwa in unserem Alter, verkaufen etwas abseits des Trubels ihre Wasserpfeifen. Anfang der 2010er-Jahre herrschte in Berlin ein großer Shisha-Hype. In vielen Ecken der Stadt schossen die Bars wie Pilze aus dem Boden. Zwar sind die Wasserpfeifen orientalischen Ursprungs erst ab 18 erlaubt, in die Bars an der Warschauer Straße oder in Johannisthal sind wir trotzdem immer reingekommen.

Leider nur haben die Besuche in den Bars mein Taschengeld strapaziert. Als ich dann erfahre, dass die Verkäufer auf dem Karneval der Kulturen nur 15 Euro für die Shishas wollten, schlage ich zu. Dazu gibt es noch die Geschmacksrichtung Apfel-Minze. Ein Super-Deal für mich. Seitdem war ich in Berlin nie wieder in einer Shisha-Bar, dafür der erste in meinem Freundeskreis mit einer eigenen Pfeife. Nicolas Butylin


Ich bin doch kein Tourist!

Ich könnte hier genauso gut über die Reichstagskuppel schreiben. Die habe ich als eingefleischter Ignorant ebenso wenig besucht wie den zur Debatte stehenden Karneval. Alles, was diese Stadt an sogenannten Attraktionen zu bieten hat, kitzelt meine Abwehrreflexe heraus. Schon das Wort Attraktion! Ich bin doch kein Tourist! Ich will nicht immer was unternehmen müssen, sondern ich will einfach hier leben und meinen Alltag verbringen.

Besonders an langen Frühlingswochenenden würden mich keine zehn Pferde zu irgendwelchen Massenveranstaltungen bringen, auf denen alle gute Laune haben müssen. Wenn das Wetter stimmt, begebe ich mich nach langem Zögern vielleicht in eine nahegelegene Grünanlage und lege mich dort mit einer Zeitung in den Schatten eines angepinkelten, geistesverwandten Stadtbaumes.

Heiße Angelegenheit: Auf dem Straßenfest hat noch jede und jeder jemanden zum Feiern gefunden.

Heiße Angelegenheit: Auf dem Straßenfest hat noch jede und jeder jemanden zum Feiern gefunden.Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Dazu kommt: Spätestens seit dem Tag, an dem ich einen weinenden Hasen samt Plüschkarotte vom Kindergarten abholen musste, weil meine damals zweijährige Tochter emotional mit einer Welt nicht zurechtkam, in der alle so tun, als wären sie nicht mehr sie selbst, sondern was anderes (zum Beispiel eben ein Hase) – also seit diesem Tag habe ich jegliche Freude an exaltierter Verkleiderei und Verstellung verloren, zumindest außerhalb von Theatern, aber eigentlich auch da.

Dass die ursprünglich als Friede-Freude-Eierkuchen-Utopie gemeinte Attraktion inzwischen in die Kritik geraten ist und kulturelle Konflikte hochkochen lässt, macht sie nun zwar ein bisschen interessanter, aber das lässt sich besser vom Sofa oder von der Wiese aus überdenken. Ulrich Seidler



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