Der DFB und die Nationalelf sind um Volksnähe bemüht


Die Nationalmannschaft tut viel, um Pluspunkte in Sachen Bodenhaftung zu sammeln, nur sollte sie auch bald anfangen, besser Fußball zu spielen.

Bundestrainer Hansi Flick beim öffentlichen Training der Nationalelf auf dem DFB-Campus in Frankfurt am Main

Bundestrainer Hansi Flick beim öffentlichen Training der Nationalelf auf dem DFB-Campus in Frankfurt am MainHerbertz/Imago

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) und seine Vorzeigetruppe haben in den vergangenen Jahren eine Menge Schelte einstecken müssen, und zwar ganz zu Recht: miese sportliche Performance, entrückt von der Fanbasis, zu viel Marketing, zu wenig Bodenhaftung. Seit Rudi Völler den Laden als Sportdirektor übernommen hat, ist ein bisschen was passiert. Auch in diesen Tagen, vor dem Benefizspiel in Bremen gegen die Ukraine (Montag, 18 Uhr, ZDF), ist das sichtbar.

Die 1000. Partie der A-Nationalmannschaft, deren Erlös zu großen Teilen den unter dem russischen Angriffskrieg leidenden Menschen zugutekommen soll, wird auf Betreiben des DFB kinderfreundlich schon früh am Abend angepfiffen. In der Vorbereitung in Frankfurt auf dem DFB-Campus und vor dem Teamhotel vor den Toren der Stadt geben sich die Nationalspieler so volksnah wie dereinst zu Zeiten der Legenden Uwe Seeler und Fritz Walter.

Am späten Donnerstagnachmittag blitzte und donnerte es erst, dann regnete es beim von Bundestrainer Hansi Flick angeleiteten Training fast wie aus Kübeln. Die 600 Fans, die bei einem Gewinnspiel einen Platz auf der Tribüne ergattert hatten, harrten mehrheitlich dennoch aus. Und dann zeigte der Verband, dass er improvisieren kann. Die draußen geplante Autogramm- und Selfie-Runde wurde kurzerhand nach drinnen in die Fußballhalle verlegt. Dort war es zwar reichlich stickig, dennoch ließen sich die Spieler und Trainer Flick fast eine volle Stunde lang Zeit, um die Wünsche der Anhängerschaft zu erfüllen. Man sah tatsächlich Tränen der Freude in vielen Augen. Besonders begehrt waren die Unterschriften von Bayerns Meistermacher Jamal Musiala und des Frankfurter Lokalhelden Kevin Trapp.

Verteidiger David Raum erklärte glaubhaft, er fühle sich „glücklich“, wenn er Autogramme gebe. „Ich sehe mich dann ein bisschen selbst als Kind, ich mache Kindern gerne eine Freude.“ So soll das sein, aber es ist natürlich nun auch an der Zeit, verlässlich Fußballspiele zu gewinnen, nachdem es zuletzt mal wieder eine schwer verdauliche Niederlage gegeben hatte – 2:3 im März daheim gegen Belgien. Am Montag im ausverkauften Weserstadion, am Freitag in Warschau gegen Polen, am darauffolgenden Dienstag in Gelsenkirchen gegen Kolumbien plant Flick jeweils Erfolge. Es braucht ein bisschen Aufbruchstimmung.

Flick übt sich als einfühlsamer Beschützer

Von der ist ehrlicherweise nach drei Turnierenttäuschungen 2018, 2021 und 2022 und ein Jahr vor Beginn der Europameisterschaft im eigenen Land (14. Juni bis 14. Juli 2024) nicht viel zu erspüren. Der DFB steuert gegen. Am Mittwoch, genau 365 Tage vor dem Eröffnungsspiel, haben die Nationalspieler einen Auftritt an der Frankfurter Hauptwache, im Herzen der Heimatstadt des DFB. Die Leute im Land sollen merken, dass was Großes kommt im Sommer 2024. Verteidiger Benjamin Henrichs sagt: „Wir stehen zur EM in der Bringschuld.“ Das bestätigt Ilkay Gündogan ausdrücklich. „Wir müssen liefern, damit wir mit einem positiven Gefühl das Turnier angehen können“, meint der Mittelfeldspieler, der wie Robin Gosens am Sonnabend noch im Finale der Champions League beschäftigt ist, ehe er zum DFB-Kader stößt.

Hansi Flick übt sich derweil in einer Mischung aus gestrengem Herbergsvater und einfühlsamem Beschützer. Vor dem Treffen in Frankfurt gab der 58-Jährige der FAZ noch ein ausgedehntes Interview. Dort erklärte er, weshalb er freiwillig auf Niklas Süle verzichtet hat (weil es ihn ärgert, wenn ein Spieler nur 80 oder 90 Prozent seines Leistungsvermögens anbietet), warum er aber dennoch dafür Sorge trägt, „dass ich die Mannschaft noch mehr schütze“ gegen böse Medienleute und Gurus wie Lothar Matthäus. Der hatte gegen Belgien unbarmherzig, aber inhaltlich richtig ein „Komplettversagen“ diagnostiziert.

Flicks Sichtweise dürfte in dieser Melange gar nicht so einfach durchzuargumentieren sein, denn mindestens Süle wurde vom Bundestrainer gerade nicht geschützt. Sondern ordentlich in den Senkel gestellt. Das ist natürlich auch eine Botschaft an alle anderen Profis, wiewohl man sich nach Süles starker Rückrunde schon fragen darf, ob es klug war, dass der Bannstrahl den ja bekanntermaßen Zeit seiner Karriere zu gewissen Nachlässigkeiten in der Wahl der gesunden Sportlerernährung neigenden Koloss nun so hart traf.

Eine halbe Stunde lang kräftig durchgeschüttelt

Zumal die Abwehrleistung ja schon Ende März gegen Belgien weit vom Optimum entfernt war. Da wurde Deutschland nämlich eine halbe Stunde lang kräftig durchgeschüttelt. Seinerzeit war der bei der WM in Katar insgesamt (aber beileibe nicht alleine) enttäuschende Süle ebenfalls von Flick nicht nominiert worden. Der Chefcoach will darauf nun systematisch reagieren. Er hat ein Experiment mit der Dreierkette angekündigt. „Dadurch“, hat Benjamin Henrichs bereits präzise ermittelt, „steht ein Verteidiger mehr auf dem Platz.“ Es soll nicht mehr so leichtes Durchkommen durch die deutsche Defensive geben.

Ein weiterer Grund für die überraschende Experimentierfreude des zuvor fast dogmatisch auf eine Viererkette festlegten Bundestrainers dürfte sein, dass er ein veritables Außenverteidigerproblem erkannt hat. Männer wie David Raum oder Robin Gosens links und Marius Wolf oder Jonas Hofmann rechts fühlen sich auf den Außenbahnen wohler, wenn sie sicher sein können, dass im Halbraum hinter ihnen noch jemand Wache schiebt. Die nächsten anderthalb Wochen werden zeigen, was bei der Versuchsanordnung herauskommt.



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