Das Rätsel der drei Geschwisterkinder

Das kann kein Zufall sein, dachte sich Rainer Schwarz, als er nach dem Wochenende in seine Dienststelle beim Landeskriminalamt (LKA) in Berlin kam. Er war an jenem Montag erst seit drei Monaten beim LKA 123, das zuständig ist bei Delikten an Schutzbefohlenen. Schwarz hatte die Ermittlungen zu zwei Babys übernommen, die 2015 und 2016 im Norden Berlins ausgesetzt worden waren.
Nun war es Ende August 2017, und der Kriminalhauptkommissar hatte diese Meldung in der Hand. Am Abend zuvor war im brandenburgischen Panketal, einem Ortsteil von Schwanebeck, kurz hinter der nördlichen Landesgrenze von Berlin ein wenige Stunden alter Säugling gefunden worden.
Sein Gefühl trog Schwarz nicht. Die DNA-Analyse, die erst Monate später vorliegen sollte, war eindeutig: Das in Panketal gefundene Mädchen war die Schwester der beiden in Berlin ausgesetzten Babys, deren Herkunft der Berliner Kriminalist klären sollte. Die drei Kinder hatten dieselbe Mutter und denselben Vater. Seitdem versuchen die Ermittler beider Bundesländer, eine Serientat aufzuklären, die es so bisher noch nicht gab in Deutschland.
Fast sechs Jahre nach diesem letzten gefundenen Geschwisterkind sitzt Rainer Schwarz in seinem Büro in der Keithstraße. Der 45-jährige Ermittler trägt Jeans, einen dunkelgrauen Kapuzenpullover und Turnschuhe und blättert in einem dicken Ordner. Darin enthalten sind die wichtigsten Ermittlungsergebnisse zu den beiden in Berlin ausgesetzten Babys.
Keine Vergleichsfälle, wenige Spuren
Ihm gegenüber hat Jens Höwer Platz genommen und seinen Laptop aufgeklappt. Höwer, schwarze Jeans, helles Hemd und Jacket, ist ebenfalls Kriminalhauptkommissar. Nur arbeitet der 47-Jährige bei der Mordkommission in Brandenburg. Das Schwanebecker Findelkind ist sein Fall. „Wäre es nicht rechtzeitig gefunden worden, dann wäre das Baby vielleicht gestorben“, erklärt Höwer die, wie er es nennt, Sonderzuständigkeit der Mordermittler.
Schwarz und Höwer arbeiten im Fall der drei Findelkinder seit geraumer Zeit eng zusammen. Trotzdem wissen sie noch immer nicht, wer die Eltern von Lena, Fina und Sophia (Namen geändert) sind, die heute in Pflegefamilien leben. Auch deswegen gehen sie immer wieder an die Öffentlichkeit, geben nach und nach immer mehr Details bekannt. Vielleicht, so ihre Hoffnung, ist da irgendjemand, der den entscheidenden Hinweis geben kann. „Es gibt keine Vergleichsfälle und wenige Spuren“, erklärt Höwer die Schwierigkeit der Ermittlungen.

Sie versuchen, die Mutter der drei Baby zu finden: Rainer Schwarz (l.) und Jens HöwerEmmanuele Contini
Es begann im Spätsommer vor fast acht Jahren in Berlin-Buch. Am Abend des 2. September 2015 ist Schichtwechsel im Helios-Klinikum. Zwei Mitarbeiter, der eine hatte laut Schwarz Feierabend, der andere kam zum Dienst, finden um 20.46 Uhr im Wartehäuschen der Bushaltestelle „Lindenberger Weg Süd“ unweit des Klinik-Nebeneingangs einen Säugling. Das Baby liegt auf einem Kissen, trägt ein Jäckchen und unter seinem Strampler eine viel zu große Windel.
Behutsam tragen die Retter das Baby ins Krankenhaus. Es ist ein Mädchen. Ärzte stellen fest, dass es erst wenige Stunden alt und leicht unterkühlt ist. Ansonsten ist der Säugling gesund und voll entwickelt. Er wiegt 2365 Gramm und ist 48,5 Zentimeter groß. Die Nabelschnur ist laienhaft durchtrennt, was darauf hindeutet, dass das Kind ohne ärztliche Hilfe und ohne Unterstützung einer Hebamme geboren wurde.
Die Ermittler geben dem Kind einen Namen: Lena. Bei der Suche nach Spuren in der Umgebung des Fundortes stoßen sie auf die Aufnahme einer Überwachungskamera, die in der Nähe der Bushaltestelle installiert ist. Zunächst heißt es, dass das Video eine 20 bis 30 Jahre alte, schlanke Frau mit dunklen Haaren zeigen würde.
Zum Alter und zur Haarfarbe will Rainer Schwarz heute nichts mehr sagen. Dazu sei die Qualität der Aufnahme zu schlecht, begründet er seine Zurückhaltung. „Es war späte Dämmerung. Und nachts verschwimmen die Farben.“ Es sehe danach aus, als würde eine Frau etwas auf den Boden legen und dann weggehen. „Vielleicht ist es das Baby, aber dann wäre noch längst nicht gesagt, dass die aufgenommene Person auch die Mutter des Kindes ist“, sagt Schwarz. Vielleicht ist es eine Verwandte der Kindesmutter, vielleicht aber hat die Person auch überhaupt nichts mit dem Fall zu tun. Es gibt zu viele Vielleichts.
Ein Ansatz für die Ermittlungen ist die Kleidung, die das kleine Mädchen trug. Der blaugestreifte Strampler der Marke Klitzeklein ist beim Versandhaus Otto bestellt worden, das Jäckchen wurde bei C&A gekauft. „Alle Kleidungsstücke machten einen gebrauchten Eindruck“, sagt der Berliner Kriminalist. Vielleicht ist es ein Indiz dafür, dass die Mutter bereits Kinder hat, die die Kleidung einst trugen. Wieder dieses Vielleicht.
Die Babysachen bringen die Fahnder nicht weiter. Auch nicht das Kissen, auf dem der Säugling gebettet wurde. Dabei handelt es sich um handelsübliche Ware, die in einem der damals 114 deutschen Einrichtungsmärkte von Poco-Domäne massenhaft verkauft wurde. Wo sollen die Fahnder ansetzen?
Die Polizei klebt am S-Bahnhof und an Bushaltestellen in Buch Fahndungsplakate, sucht nach Zeugen, die am Abend des 2. September im Bereich des Lindenberger Wegs eine Frau mit einem Baby oder einem Kissen auf dem Arm gesehen haben. Menschen sollen sich melden, die eine Frau kennen, die schwanger war und nun keinen Säugling hat. „Die Hinweise, die wir bekamen, haben uns nicht weitergebracht“, sagt Schwarz.
Betablocker im Blut gefunden
Auch eine zunächst hoffnungsvolle Spur erweist sich als Sackgasse. Im Kindspech von Lena werden Rückstände des Medikaments Metoprolol gefunden, einem rezeptpflichtigen Betablocker, der gegen Bluthochdruck und Angstzustände verschrieben wird. Mit diesem Hinweis können die Fahnder ebenso wenig anfangen wie mit der DNA des Babys, die im Oktober 2015 vorliegt. Mit ihr könnten die Ermittler die Mutterschaft nachweisen, wenn sie die richtige Frau gefunden haben.
Elf Monate vergehen, in denen es ruhig geworden ist um die Findelkind-Fahndung. Am 6. August 2016, einem Sonnabend, kommt ein junger Mann gegen 5.30 Uhr von einer Party nach Hause. Sein Elternhaus liegt in einer ruhigen Einfamilienhaussiedlung in Berlin-Blankenburg unweit der Pankower Autobahn. Das Zufahrtstor zum Grundstück habe Tag und Nacht offen gestanden, sagt Ermittler Schwarz. Ein Umstand, der ausgenutzt wurde.
Nach der relativ kalten und feuchten Nacht sind die Temperaturen auf 13 Grad gesunken. Der 19-jährige Sohn der Familie bemerkt nichts Ungewöhnliches, als er die Haustür öffnet. Eine Stunde später aber stolpert seine Mutter beim Verlassen des Hauses fast über ein Bündel, das auf dem Treppenabsatz liegt. Es ist ein Säugling. Das nackte Baby ist in ein blutverschmiertes Handtuch und dann in eine Decke gewickelt worden, die zuvor auf dem Grundstück gelegen hatte.
Das Blut im Handtuch ist noch nicht ganz trocken, als die Frau das Baby vorsichtig ins Haus trägt und Polizei und Feuerwehr alarmiert. Das Baby, ein Mädchen, ist erst wenige Stunden zuvor geboren worden. Für ihre Ermittlungen werden es die Fahnder Fina nennen. Fina wiegt 3260 Gramm, ist 49 Zentimeter groß und gesund. Die Ärzte müssen allerdings noch die Nabelschnur versorgen, die von einer unsachgemäßen Geburt zeugt. Im Kindspech finden sich keine Auffälligkeiten.
Niemand kommt auf die Idee, dass es einen Zusammenhang geben könnte zwischen dem Neugeborenen und dem ein Jahr zuvor in Buch gefundenen Baby. „Es gab keine ermittlungsmäßig belastbaren Parallelen“, erklärt Schwarz.
Die Ermittler klingeln an den Haustüren der Grundstücke in der Umgebung, suchen Menschen, die etwas gesehen haben könnten, hängen Fahndungsplakate am Bahnhof aus und an Brücken, die über die nahe Autobahn führen. Auch wird das Blut vom Handtuch ins Labor geschickt. Es ist von der Mutter des Kindes. Da es sich nicht um ein Tötungsdelikt handelt und Berlins Labore heillos überlastet sind, dauert es Wochen. Das Ergebnis einer DNA-Analyse steht noch aus, als im August 2017 die Polizei in Brandenburg auf den Plan gerufen wird.

Berliner Zeitung am Wochenende
Kurz hinter der Berliner Landesgrenze bringt am Abend des 27. August 2017 eine Frau gegen 21 Uhr Altpapier zur Mülltonne. Ihr Einfamilienhaus, das sie mit Mann und zwei Kindern bewohnt, liegt in einer ruhigen Wohngegend im Schwanebecker Ortsteil Panketal. Das Tor zur Einfahrt steht zu dieser Zeit immer offen. Das Helios-Klinikum in Buch ist nicht weit, es liegt kurz hinter der nahen Stadtgrenze.
Die 28-Jährige ist mit einem Kind zu Hause, ihr Mann mit dem anderen Sprössling im Urlaub. Gegen 21.45 Uhr entschließt sie sich, auch noch den Hausmüll hinauszubringen. Sofort fällt ihr auf, dass etwas in der Einfahrt liegt. „Sie war sich sicher, dass dort zuvor noch nichts war“, erzählt Kriminalist Jens Höwer. Als sie näher tritt, erkennt sie ein Baby. Es liegt auf dem Asphalt. Das Kind trägt keine Windeln, keinen Strampler, ist einfach nur in zwei Handtücher gewickelt. Mit einer Körpertemperatur von 31,2 Grad ist es stark unterkühlt. Die Hausbewohnerin kümmert sich um das Baby, wählt dann die Nummer des Notrufs.
Wieder ist es ein Kind, das gerade erst geboren wurde. Wieder ist es ein Mädchen mit mitteleuropäischem Aussehen. Sophia, so nennen die Ermittler das Kind, wiegt bei einer Größe von 49,5 Zentimetern 3050 Gramm. Die Nabelschnur ist unprofessionell durchtrennt worden, noch 15 Zentimeter lang und muss im Krankenhaus gekürzt werden. Die Mordkommission wird eingeschaltet.
Mit sehr viel Personal sei die Brandenburger Polizei damals von Haustür zu Haustür gegangen, erinnert sich Kriminalhauptkommissar Höwer. „Wir dachten, dass die Mutter vielleicht aus dem Nahbereich stammt.“ 180 Frauen geben freiwillig eine Speichelprobe ab. Doch die Ermittler werden enttäuscht, Sophias Mutter ist nicht darunter.
Da meldet sich ein Zeuge bei der Polizei. Er war am Abend des 27. August 2017 mit seinem Hund in Panketal spazieren. Gegenüber der Einfahrt des Einfamilienhauses, vor dem der Säugling abgelegt wurde, will er einen VW-Transporter mit laufendem Dieselmotor und Berliner oder Barnimer Kennzeichen bemerkt haben. „Es könnte ein graufarbener T4 oder T 5 gewesen sein“, sagt Höwer. 9000 solcher Fahrzeuge gibt es in der Region, ergeben die Ermittlungen. Es sind zu viele für eine zielgerichtete Fahndung.

Ermittler im Fall der drei ausgesetzten Babys in den Jahren 2015, 2016 und 2017 Rainer Schwarz (LKA Berlin, R) und Jens Höwer (LKA Brandenburg, L) posieren für ein Bild im LKA Berlin am 24. April 2023.Emmanuele Contini
Auch die Handtücher, in denen das Baby eingewickelt war, bringen die Ermittler der Mordkommission nicht weiter. Es handelt sich zum einen um eine weiße Badestola von 128 mal 66 Zentimetern, in deren Mitte der Schriftzug „renTex“ eingewebt ist und das, so schreibt der Hersteller, schon seit zehn bis 15 Jahren im Umlauf sei.
Das zweite, weiß-rosafarbene Handtuch ist 90 mal 42 Zentimeter groß. Auf einer Seite hat es weiße und auf der anderen Seite rosafarbene Herzen. An den Handtüchern haftet Blut der Mutter von der Geburt. Sie werden zur Untersuchung ins Labor geschickt.
Im Frühjahr 2018 wird Gewissheit, woran die Fahnder aus Berlin und Brandenburg „nie im Leben“ gedacht hätten, so formuliert es Jens Höwer. Die DNA-Analyse ist eindeutig: Lena, Fina und Sophia sind enge Verwandte. Sie haben dieselbe Mutter, denselben Vater, sind mit 99,9-prozentiger Sicherheit Geschwisterkinder.
„Es war unglaublich und überstieg unsere Vorstellungskraft, dass eine Mutter in drei Jahren hintereinander ihre Säuglinge ausgesetzt haben könnte“, sagt Mordermittler Höwer. Die Frau müsse in großer Not gehandelt haben. Immerhin sei sie nicht so verzweifelt gewesen, dass sie die Kinder getötet habe. Vielleicht aber wurden die Neugeborenen auch von Angehörigen der Mutter abgelegt. Die Fahnder gehen auch davon aus, dass die Stellen für die Aussetzung der Babys bewusst gewählt wurden. Es waren Orte, an denen sie leicht gefunden werden konnten. „Trotzdem war die Gefahr hoch, dass die Kinder zu spät entdeckt werden“, sagt Höwer.
Dann zeigt er eine Grafik auf seinem Bildschirm, die die Entfernungen zwischen den Fundorten der Babys zeigt. So lag das erste Neugeborene nur 4,7 Kilometer weit von der Stelle entfernt, an der der zweite Säugling ausgesetzt wurde. Die Ablageorte von Kind Nummer zwei und drei sind sechs Kilometer und die zwischen dem ersten und dem dritten Findelkind 1,5 Kilometer voneinander entfernt.
Im Mai 2018 geben die Ermittler eine Pressekonferenz. Zu groß ist ihre Angst vor einem vierten Findelkind, das womöglich nicht mehr rechtzeitig gefunden wird. „Die Ereignisse sprachen für sich. Das erste Baby war komplett bekleidet, das zweite Kind nackt in ein Handtuch und eine Decke gewickelt. Beim dritten Baby gab es nur noch die Handtücher“, macht Höwer die Entwicklung deutlich. Vielleicht, so die Überlegung, würde das vierte Kind noch ungeschützter zurückgelassen.
„Wir hatten uns ab Juni 2018 auf das nächste ausgesetzte Baby vorbereitet“, erzählt auch Rainer Schwarz. Man habe deshalb auf der Pressekonferenz über die sechs Babyklappen in Berlin informiert, die es Frauen ermöglicht, ihre Säuglinge anonym in gute Hände zu geben. Doch ein viertes Findelkind bleibt aus. „Zum Glück“, sagt Schwarz.
Die Ermittler sind allen Hinweisen nachgegangen. Sie hoffen aber, dass sich neue Zeugen melden. Rainer Schwarz und Jens Höwer schließen die Akten nicht. Sie wollen wissen, wer die Mutter und wer der Vater der drei Kinder ist. Auch für Lena, Fina und Sophia.