Boris Johnson, wie man ihn noch nie gesehen hat

Die Serie von Michael Winterbottom will die Versäumnisse der Johnson-Regierung zu Beginn der Corona-Pandemie aufzeigen. Kenneth Branagh spielt Boris Johnson.
Boris Johnson, dargestellt von Kenneth Branagh und ganz viel Latexhaut, in der Sky-Serie „This England“.Sky Studios
Die neue Sky-Serie „This England“, die einen Blick hinter die Regierungskulissen in Großbritannien zum Anfang der Corona-Pandemie bieten will, wirft viele Fragen auf. Zuerst: Warum sieht Kenneth Branagh eigentlich so seltsam aus? Der Schauspieler soll den kürzlich abgesetzten Premierminister Boris Johnson darstellen – muss sich aber unter einem solchen Berg von Gesichtsprothesen abmühen, dass er eher Johnsons 82-jährigem Vater Stanley ähnelt (vor allem für seinen Auftritt im britischen Dschungelkamp bekannt).
Dabei gelingt es Branagh tatsächlich gut, Johnsons Stimme und seine körperlichen Manierismen zu imitieren, ohne dass es zu einem abgedroschenen Abklatsch wird – warum man ihn unter so vielen Schichten Flüssiglatex auftreten lässt, wo doch eine unordentliche blonde Perücke ausgereicht hätte, bleibt ein Rätsel.
Wer über das bizarre Aussehen Branaghs hinwegzusehen vermag, wird aber dann mit einem noch größeren Rätsel konfrontiert: Wieso konnten die Serienmacher mit diesem Stoff nicht warten, bis die Zeit reif ist? Mit einer Besetzung, angeführt von Branagh, und der Regie des gefeierten britischen Regisseurs Michael Winterbottom standen alle Zeichen für dieses Projekt gut. Aber das Thema ist einfach zu roh: In dem Sinne, dass es noch zu geläufig ist, als dass die zahlreichen Versäumnisse der Johnson-Regierung wirklich schockieren könnten. Auch die emotionalen Szenen von Familien, die sich über Zoom von ihren coronaerkrankten Verwandten für immer verabschieden müssen, sind noch zu nah an der Realität. Die Untersuchung über den Umgang der britischen Regierung mit Covid-19 ist noch nicht einmal abgeschlossen. Hätte die Produktion noch ein oder zwei Jahre gewartet, wie viel eindringlicher hätte dieses Porträt geraten können? Wäre die Queen nicht am 9. September gestorben, wäre „This England“ noch eine Woche früher auf Sky in Großbritannien erschienen.
Stoff für Politiknerds bietet die Serie schon
Interessanten Stoff dürfte die Serie den Politiknerds bieten, die wissen möchten, wie es im britischen Regierungsviertel Westminster so läuft. Die Szenen in der 10 Downing Street und anderen Londoner Machtzentralen sind kurz, die Dialoge naturalistisch, der Zuschauer springt hin und her zwischen verschiedenen Krisensitzungen und Johnsons nächtlichen Pizzaessen im Büro mit seinem Team, als sich die Krise ihrem Höhepunkt nähert.
Persönliches Drama oder Analyse eines Politikversagens? Boris Johnson (Kenneth Branagh) und seine Freundin Carrie Symonds (Ophelia Lovibond) wissen es auch nicht.Sky Studios
Aber die Serie kann sich offenbar nicht entscheiden, was sie sein will. Ihr Name, „This England“, ist selbst ein Zitat aus dem Shakespeare-Drama „Richard II“. Zu Beginn der Serie wird erklärt, dass Johnson eine Shakespeare-Biografie schreibt – nach seinem Wahlerfolg Ende 2019 und der Umsetzung des Brexits erwartet er eine entspannte neue Amtszeit. Doch das Schicksal hat offensichtlich andere Dinge vor, und die Serie zeigt, wie Johnson in schwierigen Momenten andere Shakespeare-Zitate vor sich hinmurmelt. Aber die Serie ist viel zu kleinteilig geraten, um Spannung und Intrigen zu entwickeln. Die emotional fesselndsten Momente sind nicht die mit Johnson, sondern die Geschichten der Pflege- und Gesundheitsmitarbeiter, die an vorderster Front darum kämpfen, die Krise in Schach zu halten. In diesen Szenen gelingt der Serie eine angemessene Hommage an ihre Anstrengungen und Opfer.
Sollte „This England“ ein Porträt des Mannes sein, der ein herausforderndes Privatleben führt, Großbritannien durch eine noch nie dagewesene Krise steuert und selbst fast stirbt? Oder wollte man ein detailreiches Drama darüber erzählen, wie Großbritannien zu spät auf das Coronavirus reagierte, wie es seine wichtigsten Arbeitskräfte und die am meisten gefährdeten Bürger im Stich ließ und eine der schlimmsten Todesraten in Europa erlebte? Die Schaffenden haben sich offenbar für eine Mischung aus beidem entschieden – und das Ergebnis ist alles andere als überzeugend.
Wertung: 2 von 5 Punkten
This England. Miniserie, 6 Folgen, auf Sky