Berliner Start-ups bekommen weniger Kapital


Im vorigen Jahr holten Jungfirmen nur noch 4,9 statt zuvor 10,5 Milliarden Euro an die Spree. Es war dennoch die Hälfte der Investitionen in deutsche Start-ups.

Der Lieferdienst Gorillas verbrannte monatlich bis zu 50 Millionen Euro, bis Investoren kein frisches Geld mehr zur Verfügung stellten.

Der Lieferdienst Gorillas verbrannte monatlich bis zu 50 Millionen Euro, bis Investoren kein frisches Geld mehr zur Verfügung stellten.dpa/Wolfgang Kumm

Was es bedeutet, wenn Investoren das Interesse an einer Geschäftsidee verlieren, hat das Berliner Start-up Infarm erst vor wenigen Tagen erlebt. Wurde es im Dezember 2021 von Kapitalgebern noch mit 200 Millionen US-Dollar versorgt, machen dem Unternehmen, das vor allem Supermärkte mit Gewächsschränken für Kräuter und Salate beliefert, ein Jahr später hohe Energiekosten und Kaufzurückhaltung infolge der Inflation zu schaffen. Anfang Dezember musste der Chef auf einer Mitarbeiterversammlung verkünden, dass jede zweite Stelle gestrichen wird. 500 Mitarbeitern wurde gekündigt. Als Hauptgrund wurde die schwierige Finanzierungssituation genannt. Das 2013 gegründete Unternehmen ist bis heute nicht profitabel.

Start-ups benötigen Risikokapital, um den Durchbruch zu schaffen

Risikokapital ist der Treibstoff, mit dem junge Unternehmen ihre Geschäftsidee bis zur Profitabilität bringen können. In Zeiten billigen Kapitals saß das Geld dafür bei Investoren locker. Mitunter hatten Risikokapitalinvestoren von sich aus bei Jungunternehmen angeklopft und sich als Geldgeber angeboten. Nun hält man sich eher zurück. „Die Rahmenbedingungen haben sich verändert“, sagt Thomas Prüver, Partner bei der Unternehmensberatung EY, ehemals Ernst & Young. Es werde zwar weiter investiert. Angesichts steigender Kapitalkosten achteten Investoren aber mehr auf Rentabilität als auf langfristige Wachstumsversprechen. Für den Start-up-Experten ist klar: „Rekordjagd vorerst beendet.“

Start-up-Szene in Deutschland: Die Bedingungen werden rauer

Tatsächlich erlebte die deutsche Start-up-Szene im vergangenen Jahr nicht weniger als einen Einbruch der Investitionen. Wurden in hiesige Jungunternehmen 2021 noch insgesamt 17,4 Milliarden Euro gepumpt, so flossen 2022 nur noch knapp zehn Milliarden Euro, wie EY in seinem aktuellen Start-up-Barometer analysiert. Allerdings ist es noch immer die zweithöchste Summe seit 2015, als EY erstmals diese Daten erhob. 2020 wurden deutsche Start-ups noch mit 5,2 Milliarden Euro versorgt. 6,2 Milliarden waren es im Vor-Corona-Jahr 2019. Und Berlin? In dieser Stadt wurden allein im vergangenen Jahr 600 neue Start-ups gegründet. Mittlerweile zählt der digitale Mittelstand der Hauptstadt 120.000 Beschäftigte.

Dass die Bedingungen auch hier rauer geworden sind, ist seit Monaten nachzulesen. Wie Infarm haben etliche Berliner Start-ups Stellen streichen müssen. Der Zehn-Minuten-Lieferdienst Gorillas, der monatlich etwa 50 Millionen Euro zum Überleben brauchte, wurde von der Konkurrenz geschluckt, nachdem sich Investoren abgewendet hatten. Unter dem Strich bekamen Start-ups aus der Hauptstadt im vergangenen Jahr 4,9 Milliarden Euro, während sie 2021 noch insgesamt 10,5 Milliarden Euro, also mehr als doppelt so viel, in die Stadt gezogen hatten. Aber: „Berlin bleibt unangefochtener Hotspot für Jungunternehmer in diesem Land“, sagt Prüver.

Start-ups in Berlin: Sechs der zehn größten Deals wurden hier abgeschlossen

Denn nach wie vor rangiert die Hauptstadt im Venture-Capital-Ranking der Bundesländer mit großem Abstand vor Bayern, Baden-Württemberg und Hamburg an der Spitze. Und nicht nur das: Mit 4,898 Milliarden Euro haben die Berliner Start-ups fast ebenso so viel Risikokapital eingesammelt wie die Jungunternehmen aller anderen Bundesländer zusammen (4,956 Milliarden). Damit floss jeder zweite Euro nach Berlin.

Auch bei der Anzahl der abgeschlossenen Finanzierungsrunden belegt Berlin den ersten Platz. Von den bundesweit 1008 Deals über angebotene Beteiligungen wurden 390 in der Hauptstadt unter Dach und Fach gebracht – fast genauso viele wie in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg zusammen. Im Rekordjahr 2021 wurden hier noch 503 Abschlüsse erzielt. „Die Rückgänge bei Anzahl und Volumina der Deals zeigen, dass die Bäume auch hier nicht in den Himmel wachsen“, sagt EY-Analyst Thomas Prüver.

In den von EY zusammengestellten zehn größten Finanzierungsrunden des Jahres 2022 sind Berliner Start-ups dennoch sechsmal vertreten. So hatte der Versicherer Wefox aus Mitte knapp 400 Millionen Euro bekommen. Die Digital-Spedition Forto aus Prenzlauer Berg wurde mit 230 Millionen Euro versorgt. Insgesamt hatte sich die Zahl der Deals über mehr als 50 Millionen Euro von 72 im Jahr 2021 auf 37 im vergangenen Jahr halbiert. Andererseits wurden im Bereich zwischen fünf und 50 Millionen Euro 246 statt zuvor 228 Finanzierungsrunden abgeschlossen.

Software-Firmen bekamen 2022 das meiste Risikokapital

Interessant ist zudem, wo investiert wurde. Waren 2021 noch Start-ups aus dem Onlinehandel und dem Finanzsektor die großen Abräumer, so holten sich 2022 Firmen aus dem Bereich Software & Analytics das meiste Risikokapital. Insgesamt 3,2 Milliarden Euro wurden dort investiert. Das war zwar ebenfalls weniger als die 3,6 Milliarden Euro, die 2021 flossen. Doch blieb die Summe relativ stabil. Die ehemaligen Spitzenreiter haben indes kräftig verloren. Fintecs bekamen nur noch 1,3 statt 3,8 Milliarden Euro. Für Start-ups aus dem Bereich E-Commerce schrumpfte die Finanzierungssumme gar von 3,7 Milliarden auf 635 Millionen Euro. Ein Minus von 83 Prozent.

Das neue Jahr begann für die Berliner Jungunternehmen durchaus hoffnungsvoll. Am Dienstag hatte der Friedrichshainer Solaranlagenvermieter Enpal den Abschluss einer Finanzierungsrunde über 215 Millionen Euro bekannt gegeben. Das 2017 gegründete Unternehmen, das inzwischen mehr als 2000 Mitarbeiter beschäftigt, arbeitet seit dem vergangenen Jahr profitabel.



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