Bedrängt, beschimpft, bedroht – Berliner Fußgänger leben gefährlich


„Guck doch!“, brüllt der junge Mann, nachdem er mich um ein Haar überfahren hätte. Der junge Mann: ein Radfahrer. Ich: zu Fuß unterwegs. Ort des Geschehens: die Parkwegbrücke. Das ist eine Verbindung zwischen Friedrichshain und Treptow entlang der Gleise der Ringbahn. Außerdem ist sie ein verkehrstechnisches Desaster, denn sie bietet ihren Benutzern nur wenig Platz. Die Benutzer, das sind ausschließlich Fußgänger und Radfahrer. Zwischen ihnen kommt es immer wieder zu Konflikten. Schuld daran ist nicht nur die viel zu enge Brücke, vielmehr ist Derartiges exemplarisch für den Berliner Straßenverkehr.

Die Sicht der Radler auf Berlin ist in den Medien sehr präsent. Wir lesen viel dazu, wie sie verdrängt werden. Wie rücksichtslos sich Stärkere, meist Autos, ihnen gegenüber verhalten. Wie unsinnig so manche provisorische Strecke an Baustellen vorbei führt. Authentische Texte von Fußgängern hingegen sind rar, dabei haben wir exakt dieselben Probleme. Sogar noch schlimmer, denn rein kräftemäßig sind wir allen anderen Verkehrsteilnehmern unterlegen. Manche von ihnen lassen uns das deutlich spüren.

Dieser Text richtet sich nicht allein gegen Gehwegradler. Es geht gegen alle, die uns Fußgänger Tag für Tag bedrängen. Manche von ihnen nehme ich ausdrücklich aus, denn ich kann sie verstehen: Stehen beispielsweise Tische und Stühle der durch Corona gebeutelten Gastronomie auf dem Trottoir, weiche ich aus. Doch es gibt auch jene, die auf dem Gehweg nichts verloren haben. Die sich ihren Raum nehmen, indem sie unseren Raum beschneiden. Jugendliche auf E-Rollern, radelnde Essenslieferanten, gar Motorroller – sobald wir das Haus verlassen, kurvt jemand mehr oder weniger gekonnt um uns herum. Hinzu kommen parkende Autos, natürlich immer nur kurz.

Bleiben wir im Friedrichshain. Hier gibt es noch Straßen mit echtem Kopfsteinpflaster. Holprig, ich weiß, doch man kann sie befahren. In den letzten dreißig Jahren habe ich das genau das getan. Ab und an fiel mir irgendwas ab, ein Reflektor oder ein schlecht montiertes Rücklicht. Daheim wurde das gute Stück dann eben ersetzt. Wenn ich mir moderne Räder so ansehe, begreife ich einfach nicht, warum damit keine zwanzig Meter Holperstrecke gefahren werden können. Sie wirken äußerst stabil, vermutlich erreichen sie auf glatten Wegen eine ordentliche Geschwindigkeit. Spätestens hier liegt der Verdacht nahe, dass es nicht einfach an fehlender Infrastruktur liegt. Bewältigen ließe sich Kopfsteinpflaster mit solchen Rädern nämlich schon. Allerdings müsste man dafür auch deutlich abbremsen.

Hauptsache Meckern!

Bevor wir Ursachenforschung betreiben, noch ein paar Beispiele. Das erste davon spielt vor Monaten auf der Gärtnerstraße: Gesperrt aufgrund von Bauarbeiten, ging es dort für Autos nicht weiter. Erneut das altbekannte Bild, alle Radfahrer nutzen, ohne abzubremsen, den Gehweg. Natürlich wieder einmal ungeachtet der zahlreichen Fußgänger dort. Eine junge Frau schafft das sogar mit Kaffeebecher in der Hand. Als ich ihr hinterherrufe, hält sie sofort an – ein Kunststück mit nur einer Hand am Lenker. „Hauptsache Meckern!“, ruft sie genervt, bevor sie ihren Weg fortsetzt. Immer noch einhändig, bewundernswert. Fehlende Fahrkünste sind also offensichtlich nicht das Problem.

Andere Straße, breiter Radweg auf der Fahrbahn, glatt und gut zu befahren. Auf dem Gehweg hinter uns drängelt eine Radfahrerin. Sie klingelt mehrfach, zunehmend genervt, weil wir nicht sofort zur Seite springen. Zur Rede gestellt, warum sie nicht den Radweg nutze, erklärt sie: „Auf der Straße traue ich mich nicht!“ Ob sie sich auch nicht getraut hat, ihr Rad bis zur nächsten Ampel zu schieben? Weit wäre es nicht gewesen. Ich halte ihr zugute, dass sie es wahrscheinlich eilig hatte.

Abschließend die Mutter mit Kleinkind im Kindersitz, die mich tatsächlich in den Rücken knufft, weil ich da laufe, wo ich laufe. Auf der Promenade Treptower Park, zu jener Zeit überfüllt mit Spaziergängern. Auf meinen Protest hin heißt es: „Ich hab ZWEIMAL geklingelt!“ Zugegeben: Damals wäre ich fast handgreiflich geworden, zumal Radfahren dort schlicht verboten ist. Ihr Partner, verspiegelte Sonnenbrille, stämmig, nicht zitierfähiger Wortschatz, hielt mich davon ab. Heute bin ich ihm dankbar.

Mir ist klar, dass auch Radfahrer verdrängt werden. Dass sie täglich höchst gefährdet sind, sobald sie sich auf ihr Fahrrad schwingen. Ich kenne die Statistiken, jährlich im Schnitt zehn tote Radler in Berlin. Doch in diesem Text geht es nun mal um Fußgänger. Und die haben ein besonderes Problem.

Jeder andere hat draußen irgendeine Fläche, auf die er ausweichen kann: Die Autos haben Rad- und Fußwege. Die Radler haben den Gehweg. Nur die Fußgänger haben nichts. Keinen zusätzlichen Platz, keinen Puffer. Zudem wird Berlin immer voller, nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Gebäuden. Diese Enge macht aggressiv. Auch mich, wie ich an jenem Tag im Treptower Park begriff. Fußgänger sind also keine besseren Menschen. Wir haben nur niemanden, der noch schwächer ist, niemanden, an dem wir uns gefahrlos abreagieren können.

E-Scooter und Fahrradfahrer nutzen oftmals auch den Gehweg.

E-Scooter und Fahrradfahrer nutzen oftmals auch den Gehweg.dpa/Jens Kalaene

Das Nadelöhr TR4

Zurück zur Parkwegbrücke. Ganz am Anfang steht dort auf Friedrichshainer Seite ein kleines, leicht zu übersehendes Schild. „Schrittgeschwindigkeit“ mahnt es alle Radfahrer. Allerdings hält sich kaum jemand daran. Lange Zeit dachte ich, das liege einzig am S-Bahnhof auf der anderen Seite. Wahlweise zieht der nahe Treptower Park viele Erholungsuchende an. Und diese möchten einfach schnell ans Ziel gelangen.

Allerdings fiel mir im Zuge der Recherchen für diesen Text etwas auf. Dieses Nadelöhr ist Teil der TR4. Nie gehört? Ich auch nicht. Dabei ist die TR4 für Radfahrer sehr wichtig. Das Kürzel steht für Tangentialroute Südspange Dahlem – Biesdorf. Diese Strecke ermöglicht laut Berliner Senat ein „komfortables und sicheres Radfahren“. Ganz ehrlich: Als Radfahrer würde ich mich veralbert fühlen. Ebenso erging es wohl zwei Radlerinnen, die ich vor Kurzem dort traf und die ratlos das „Schrittgeschwindigkeit“-Schild beäugten. „Wir sind hier nur geduldet“, murmelte die eine. Die andere sagte nichts. Vermutlich fehlten ihr die Worte.

Zu bestimmten Zeiten drängen sich hier Jogger, Fußgänger und Radfahrer. Besonders schlimm ist es am Wochenende, möglichst noch bei schönem Wetter: Dann wollen alle Friedrichshainer in den nahe gelegenen Treptower Park. Unter der Woche ist es nicht besser, dann wollen sie morgens zum S-Bahnhof. Und nach der Arbeit wieder zurück.

Alle nutzen die Parkwegbrücke. Kein Wunder, ist sie doch die schnellste Möglichkeit, will man an dieser Stelle die Spree überqueren. Die Elsenbrücke gibt es auch noch, doch dort wird ständig gebaut, samt veränderter, oft abenteuerlicher Wegeführung. Zudem bedeutet die große Schwester der Parkwegbrücke einen Umweg von mehreren hundert Metern. Also sollte die Parkwegbrücke doch für jeden erlaubten Verkehrsteilnehmer benutzbar bleiben. Aber das ist sie nicht. Jedenfalls nicht uneingeschränkt.

Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht

Sicher, als sie in den Neunzigern gebaut wurde, rechnete noch niemand mit derartigen Menschenmassen. Vielleicht ist sie deshalb so knapp geraten: Etwas mehr als zwei Meter bietet sie uns Passanten in der Breite. Das bedeutet: Gehen zwei Menschen darauf nebeneinander, lassen sie sich nicht mehr gefahrlos überholen. Gut erzogene Fußgänger wechseln hier automatisch in den Gänsemarsch. Gut für Radfahrer, aber wohl für keine Partei komfortabel. Besonders sicher ist es schon gar nicht.

Immerhin hat man versucht, uns zu schützen. Um Raserei zu vermeiden, gibt es an den Auffahrten der Brücke Hindernisse. Sie sehen aus wie Schranken und lassen sich vermutlich von Rollstuhlfahrern schlecht passieren. Deshalb ist irgendein wohlmeinender Mensch auf die Idee gekommen, Umgehungshilfen zu schaffen: in Form einer schmalen, betonierten Fläche neben jeder einzelnen Schranke. Zwar betrifft das nur die Friedrichshainer Seite. Doch was passiert, ist Folgendes: Die Betonpassagen laden dazu ein, flott an den Hindernissen vorbeizufahren. Ein Husarenstück, das Tag für Tag viele Menschen gefährdet.

So führt es etwa zu der Frage, wo Fußgänger sich bewegen sollen. In Richtung Treptow sieht das so aus: Fußgänger, die sich rechts halten, werden spätestens an der dritten Schranke nassforsch aus dem Weg geklingelt. Nicht selten folgen Beschimpfungen. Um das zu vermeiden, hält man sich entweder links. Aber das führt zu Konflikten mit den ebenfalls links überholenden Radlern. Wir erinnern uns, Schrittgeschwindigkeit. Wahlweise wittert man vor jeder Schranke, ob von hinten etwas kommt. Und huscht auf die Seite, die jeweils am ungefährlichsten erscheint. Wie Wild, denke ich manchmal.

Wie auch immer man es betrachtet: Es läuft darauf hinaus, dass zu wenig Platz vorhanden ist. Und das betrifft nicht nur die Parkwegbrücke. Es betrifft in gleicher Weise Baustellen dieser stetig wachsenden Stadt. Dort finden sich regelmäßig Umleitungen, die für Radler wie auch für Fußgänger abenteuerlich sind. Warum das so sein muss, wäre ein anderer Text. An dieser Stelle nur so viel: Allein die Möglichkeit, jederzeit einem rasenden Radler zu begegnen, und das in meinem ureignen Raum, macht mich wütend. Das wird auch nicht besser. Jedenfalls nicht, wenn mir mal wieder jemand in den Nacken atmet, der ständig moniert, dass doch bitte jeder Autofahrer mindestens eins fuffzich Abstand halten solle.

Mangelnde Infrastruktur oder falsche Verkehrsplanung sind nur ein Teil des Spiels. Der andere Teil lässt sich nicht anders benennen als mit einem deutlichen Wort: Rücksichtslosigkeit. Solange sich da nichts ändert, herrscht Straßenkampf. Gerade auch unter denen, die es eigentlich besser wissen müssten: Fußgänger wie auch Radfahrer sollten endlich zu einem respektvollen Umgang miteinander finden.

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