Bayerns DGB-Vorsitzender: „Mich ärgert diese Geiz-ist-geil-Mentalität“


Bernhard Stiedl ist Vorsitzender des Gewerkschaftsbundes DGB Bayern – und er hat ein Ziel: Im Freistaat sollen Beschäftigte wieder öfter nach Tarif bezahlt werden. Wie das gehen soll, erklärt er im Interview.
Energiekrise, hohe Inflation, Rezessionssorgen: Wie kommen die Beschäftigten in Bayern durch die Krise?
Bernhard Stiedl: Bis jetzt noch einigermaßen gut, wenn man bedenkt, dass wir uns seit einigen Jahren in einer Dauerkrise befinden: Das ging los mit Corona, es folgten die Lieferketten-Probleme, dann begann der furchtbare Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, die Energieversorgung brach ein. Jetzt sehen wir die Auswirkungen auf die Wirtschaft.
Und auf einmal gibt es wieder Tarifabschlüsse von fünf, sechs oder sieben Prozent. Aber die Reallöhne sind 2022 im Schnitt gesunken. Die hohen Preissteigerungen haben die Lohnerhöhungen komplett aufgefressen. Je nach Branche ist in den Taschen der Beschäftigten wenig bis nichts geblieben. Was ist die Folge?
Die Menschen halten sich beim Konsum zurück, die Leute sparen. Das trägt zu einer Verschärfung der aktuellen Krise bei.
Sie finden, die Löhne sind noch nicht hoch genug?
Sie sind bei Weitem nicht hoch genug. In vielen Branchen gibt es Nachholbedarf.

Wenn für die Beschäftigten alles teurer wird, dann brauchen sie mehr Geld zum Leben. Ausschließen lassen sich Streiks daher nicht.
Wie sollten sich die Löhne entwickeln?
Die Löhne müssen auf jeden Fall stärker steigen als die Inflationsrate – denn ansonsten können sich die Menschen ihr Leben nicht mehr leisten.
Werden die Gewerkschaften die Forderungen mit Streiks durchsetzen?
Das lässt sich nicht vorhersagen, das hängt von den Arbeitgebern ab. Sollte sich die Konjunktur weiter eintrüben, werden die Gewerkschaften bei ihren Lohnforderungen etwas zurückhaltender sein. Die Gewerkschaften waren sich ihrer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung in der Vergangenheit immer bewusst. Aber wenn für die Beschäftigten alles teurer wird, die Lebenshaltungskosten steigen, Mieten sich erhöhen, dann brauchen die Beschäftigten mehr Geld zum Leben. Ausschließen lassen sich Streiks daher nicht.
Im Frühjahr waren die Leute teilweise ganz schön genervt, als im Öffentlichen Nahverkehr gestreikt wurde und Kitas vielerorts geschlossen hatten.
Das verstehe ich. Ich stand auch am Bahnhof und die S-Bahn fuhr nicht, meine Termine musste ich umorganisieren. Aber an dem Streik hat man auch gesehen, wie wichtig die Arbeit der Menschen im Öffentlichen Dienst ist. Diese Menschen leisten tagtäglich Enormes und haben daher auch einen gerechten Lohn verdient.
Am Ende profitieren diejenigen Beschäftigten, die in einer Branche mit Tarifvertrag arbeiten. Sind alle anderen Beschäftigte zweiter Klasse?
Zum Teil ja. Es geht ja nicht nur um höhere Löhne. Im Tarifvertrag sind auch andere Dinge geregelt. Es geht um Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen, flexible Arbeitszeiten und so weiter. Wer nicht tariflich arbeitet, hat diese Vorzüge nicht.
Gleichzeitig gibt es seit Jahren den Trend, dass sich immer mehr Unternehmen aus dem Tarif verabschieden.
Und dieser Trend hat sich leider noch verschärft: Dass immer weniger Unternehmen tariflich organisiert sind, ist eigentlich ein Skandal.
Warum?
Weil die Tarifflucht Folgen hat: Die Menschen haben Zukunftssorgen. Und gleichzeitig stehlen sich die Arbeitgeber einfach aus der Verantwortung, anstatt den Menschen vernünftige Löhne zu zahlen und anständige Arbeitsbedingungen zu bieten. Am Ende profitieren davon extreme Parteien.
Welche Branchen sind besonders betroffen?
Die Branchen, die besonders über den Fachkräftemangel klagen, zum Beispiel die Gastronomie. Dort haben wir mit etwa 20 Prozent mit die geringste Tarifbindung. Aber diese Branche jammert am stärksten über Fachkräftemangel.
Es gibt Wirtshäuser, die schleppen sich seit der Pandemie gerade so über die Runden.
Aber es kann doch nicht sein, dass die Beschäftigten dafür büßen! Wenn die Köche und die Servicekräfte gut bezahlt werden, sind Kunden auch bereit, ein paar Euro mehr für das Essen zu bezahlen. Gerade in Ballungsgebieten ist in der Gastronomie viel los, die Wirtshäuser sind voll, die Kunden sind ja da. Natürlich gibt es Gegenden, in denen es schwieriger ist. Daher unterstützen wir auch, dass die Mehrwertsteuer von sieben Prozent in der Gastronomie verlängert wird.
Ließe sich der Fachkräftemangel mit mehr Zuwanderung lösen?
Zuwanderung wird das Problem nicht lösen. Der deutsche Arbeitsmarkt ist für eine Fachkraft aus dem Ausland überhaupt nicht attraktiv. In Ländern wie Frankreich oder Norwegen gibt es eine höhere Tarifbindung, höhere tarifliche Leistungen und bessere Arbeitsbedingungen. Den prekären Arbeitsmarkt, den wir in Deutschland haben, den gibt es in anderen Ländern nicht. Abgesehen davon haben wir angesichts des angespannten Mietwohnungsmarktes überhaupt nicht genügend Wohnraum und Kita-Plätze in Bayern.
Was könnte eine künftige Staatsregierung tun, damit die Tarifbindung wieder zunimmt?
Wenn der Staat einen öffentlichen Auftrag ausschreibt, sollen in Zukunft nur noch Unternehmen, die den Tariflohn zahlen, den Zuschlag erhalten. Es kann doch nicht sein, dass mit unseren Steuergeldern Firmen bevorzugt werden, die Lohndumping betreiben! In allen Bundesländern gibt es bereits solche Gesetze – nur nicht in Sachsen und Bayern. Dabei gibt Bayern bei öffentlichen Aufträgen jedes Jahr fast 20 Milliarden Euro an Steuergeldern aus – unabhängig von den Arbeitsbedingungen. Mich ärgert diese Geiz-ist-geil-Mentalität, bei der am Ende immer die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Leidtragenden sind.
Dass immer weniger Unternehmen tariflich organisiert sind, ist eigentlich ein Skandal.
Würde ein solches Gesetz vor allem die Baubranche treffen?
Nicht nur. Es geht um Reinigungsfirmen, die in Behörden sauber machen, Küchen, die das Essen in die Kitas bringen, es geht um Busfahrer, die die Kinder zur Schule bringen.
Klappt das in anderen Bundesländern?
Vorbildlich ist das Saarland. Dort gibt es bereits eine solche Verordnung. Was feststellbar ist, dass in diesen Bundesländern die Löhne und Gehälter insgesamt gestiegen sind, weil die Dumping-Firmen auf einmal leer ausgehen. Statt immer nur zu jammern, sollten uns die Arbeitgeber bei der Forderung nach einem solchen Gesetz unterstützen, schließlich würden am Ende die Firmen profitieren, die längst Tariflöhne bezahlen.
Wie würden Sie generell das Verhältnis der Gewerkschaften zum bayerischen Arbeitgeberverband vbw von Bertram Brossardt bezeichnen?
Gut. Ich könnte sogar sagen sehr gut, wenn Herr Brossardt sich beim Thema Löhne und Gehälter etwas flexibler zeigen würde. Aber wenn es um einen starken Wirtschaftsstandort Bayern geht, wenn es um die Sicherung der Arbeitsplätze geht, sind unsere Interessen ähnlicher, als viele glauben.
Unterstützen Sie die Arbeitgeber auch bei ihrer Forderung nach einem Industriestrompreis?
Die Idee eines vergünstigten Brückenstrompreises ist richtig. Der Strompreis muss für die Industrie bei 5 Cent gedeckelt werden – allerdings nur vorübergehend. Vorrangig muss die Energiewende beschleunigt werden. Und ganz wichtig dabei: Von einem vergünstigten Strompreis sollten nur tarifgebundene und standorttreue Betriebe profitieren. Wir werden ein Gesetz nur dann unterstützen, wenn es die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern berücksichtigt.