90 Jahre nach Machtergreifung: “Wir müssen wachsam sein”




Interview

Stand: 30.01.2023 04:30 Uhr

Vor genau 90 Jahren übernahmen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland – mit schrecklichen Folgen. Eine der Lehren für heute lautet, wachsam zu sein, sagt der Historiker Wirsching. Demokratien müssten aktiv verteidigt werden.

tagesschau.de: Am 30. Januar 1933 kam Hitler an die Macht, nicht durch einen gewaltsamen Umsturz, sondern durch einen regulären Regierungswechsel. Wie konnte es dazu kommen?

Andreas Wirsching: Es gab zwei wichtige Voraussetzungen für die Machtübernahme: Zum einen war die parlamentarische Demokratie seit 1932 nicht mehr wirklich funktionsfähig. Es gab zahlreiche Regierungswechsel, dadurch entstand ein Machtvakuum. Und zum anderen war die NSDAP eine Massenbewegung geworden, sowohl auf der Straße als auch im Parlament. Dadurch kamen die konservativen Eliten der Weimarer Republik um Reichspräsident Paul von Hindenburg in die Versuchung, diese Massenbewegung zu steuern und sie als eigene Machtbasis zu benutzen.

Deshalb hat Hindenburg auf Anraten seines Schützlings Franz von Papen letztlich – obwohl er das lange Zeit nicht wollte – Hitler doch zum Reichskanzler ernannt. Das ist bekanntlich grandios gescheitert: Hitler konnte die konservativen Eliten, die ihn in den Sattel gehoben haben, übertrumpfen. Deshalb ist der 30. Januar 1933 auch bis heute ein Menetekel für Demokratien, dass man mit Rechtsradikalen oder überhaupt Extremisten lieber gar nicht erst anfängt.

Andreas Wirsching | Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Andreas Wirsching

Der Historiker unterrichtet Neuste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zudem ist er Leiter des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert und Demokratieforschung.

Umbau auf mehreren Ebenen

tagesschau.de: Hitler hat die Weimarer Demokratie danach in nur wenigen Monaten in eine Diktatur verwandelt – wie ging er dabei vor?

Wirsching: Hitler setzte nur wenige Wochen danach – unter großem Druck und Terror wohlgemerkt – die Reichstagsbrandverordnung und das Ermächtigungsgesetz durch. Damit war die Weimarer Verfassung in ihrer Grundrechtsebene praktisch außer Kraft gesetzt, denn Hitler konnte fortan am Parlament vorbei Gesetze erlassen.

Interessant für uns heute sind die Mechanismen dahinter: Dadurch, dass die Nazis erfolgreich glauben machten, es habe sich um eine legale Machtübernahme gehandelt, konnten sie auch die Justiz und die Exekutive, also die Polizei und die Verwaltung, hinter sich bringen. Die waren natürlich auch vorher schon rechter Ideologie nicht abgeneigt, haben sich aber sofort von den Nazis in den Dienst nehmen lassen – weil sie glaubten, oder glauben wollten, dass sie völlig rechtmäßig handeln. Dazu kam eine Gleichschaltung der Medien und die gewaltsame Verfolgung der Opposition.

Und ähnliche Mechanismen des Demokratieabbaus sehen wir auch heute wieder in einigen Ländern. Ganz deutlich natürlich in Russland, aber in abgeschwächter Form auch in der Türkei oder in Ungarn.

“Lehre lautet: Wachsam sein”

tagesschau.de: Welche Lehren können wir für unsere heutige Demokratie ziehen? Wie können sich Demokratien gegen einen Umsturz von innen schützen?

Wirsching: Die Lehre aus 1933 ist: Wir müssen wachsam sein, und zwar rechtzeitig. Dafür müssen wir Gefährdungen der Demokratie zunächst einmal erkennen und ihnen dann entgegentreten, solange die Rechte dafür gegeben sind. Wir sind gefordert, Gegnern der Demokratie gewaltfrei entgegenzutreten und einfach den Rechtsstaat und die Demokratie aktiv zu verteidigen. Denn wenn die Freiheit erst einmal verloren ist – wie etwa in Russland heute -, dann ist es extrem schwierig, da noch etwas zu unternehmen.

“Keine falschen Kompromisse mit Extremisten”

tagesschau.de: Die Sehnsucht nach einer starken Führerfigur nimmt in vielen Ländern wieder zu – warum?

Wirsching: Wir leben in einer Zeit, die in gewisser Weise vergleichbar ist mit den 1920er- und 1930er-Jahren. Es besteht auch heute offenkundig das Bedürfnis, eine komplexe Welt zu reduzieren, einfache Antworten zu geben und Freund-Feind-Gegensätze aufzubauen. Das kann auch der vermeintliche Gegensatz zwischen “Wir, das Volk” und den “korrupten Eliten” sein. Und in solchen Zeiten wächst die Sehnsucht nach jemandem, der einfach gordische Knoten durchschlägt und sagt: “So ist es.”

tagesschau.de: Aus diesem Bedürfnis schlagen Rechtspopulisten in ganz Europa Profit.

Wirsching: Die Weimarer Republik und ihr Ende lehren uns auch, keine falschen Kompromisse mit extremistischen Kräften zu machen. Denn im Zweifelsfall wählen die Wähler das Original und nicht die Nachahmung. Zudem wird eine extremistische Partei immer dazu neigen, ihre demokratischen Partner zu instrumentalisieren, zu manipulieren und am Ende in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Insofern ist es geboten, eine klare rote Linie zu ziehen, in diesem Fall nach rechts.

Keine großen Sorgen

tagesschau.de: Wie gefestigt ist unsere heutige Demokratie in Deutschland?

Wirsching: Im Vergleich zur Weimarer Republik müssen wir uns heute weitaus weniger Sorgen machen. Denn unsere Eliten, seien sie in der Wirtschaft, in den Medien, in der Politik, aber auch in der Justiz zum Beispiel, stehen doch weitestgehend auf dem Boden des Grundgesetzes und fühlen sich wirklich der Demokratie verpflichtet. Auch die Wähler übrigens, denn bei den letzten Bundestagswahlen haben gut 80 Prozent völlig demokratisch gewählt und das ist schon ein Stabilitätsausweis.

Trotzdem: Was man im Auge behalten muss und was eine Gefahr bedeutet, ist, dass die Demokratie ihre Problemlösungskapazität zu verlieren droht, sodass am Ende weniger Menschen an demokratische Lösungen glauben. Also dass sie keine befriedigenden Antworten auf die großen Herausforderungen geben kann. Und dann wird es in der Tat gefährlich. So weit sind wir aber in Deutschland lange nicht.

tagesschau.de: Wie gefestigt sehen Sie andere Länder, etwa die USA?

Wirsching: Die gute Nachricht zuerst: Was die USA aber auch beispielsweise Brasilien betrifft, ist, dass dort Regierungen, die sicher ein diktatorisches Potenzial in sich trugen, auch wieder abgewählt werden konnten. Erkauft wird das allerdings mit einer tiefergehenden Spaltung der Politik und Gesellschaft. Und das gefährdet diese Demokratien schon.

Um die USA muss man sich meines Erachtens schon Sorgen machen, weil die Gräben mittlerweile so tief sind, dass fast nicht mehr vorstellbar ist, wie gemeinsame Spielregeln als selbstverständlich eingehalten werden. Und das ist entscheidend für die Demokratie.

Mehr Partizipation

tagesschau.de: Wie können wir die Menschen wieder von der Demokratie überzeugen?

Wirsching: Das ist die große Frage, vor der wir heute stehen. Meines Erachtens ist es wichtig, dass wir neue partizipatorische Elemente finden. Da sind zum Beispiel die Parteien aufgefordert, sich stärker in die Gesellschaft zu öffnen, deren Stimme noch besser zu hören und auch zu integrieren. In den USA beispielsweise wird die Washingtoner Elite von vielen gehasst, weil sie als abgehoben erscheint. Und das ist natürlich auch in Deutschland ein Standardargument der AfD.

Durch mehr Partizipation verbessert sich auch die Problemlösungsfähigkeit: Wenn die Amts- und Mandatsträger noch besser Bescheid wissen, was die Leute wirklich bewegt und was ihre Probleme sind, dann steigt die Chance, dass sie zielführender an die Probleme rangehen, als das manchmal vielleicht der Fall ist.

Das Interview führte Alexander Steininger, tagesschau.de



Quellenlink https://www.tagesschau.de/wissen/forschung/ns-machtergreifung-demokratie-101.html