Zum Tod von Hans Magnus Enzensberger: Ein Leben als Kunstwerk


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Von: Alexander Altmann

Hans Magnus Enzensberger
Einen derart heiteren Aufklärer wie Hans Magnus Enzensberger wird es nicht nur in der deutschen Literatur kein zweites Mal geben: Am Donnerstag ist Hans Magnus Enzensberger im Alter von 93 Jahren gestorben. © nicolas Armer/dpa

Der Dichter, Vor- und Meisterdenker Hans Magnus Enzensberger ist verstorben. Ein Nachruf.

Kann man sich die deutsche Literatur ohne Hans Magnus Enzensberger vorstellen? Nur schwer. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hat dieser Autor, der ein Dichter und Denker im Wortsinn war, das literarische Leben weltweit entscheidend mitgeprägt. Und anders als manche seiner Kollegen, die ebenfalls als Leuchttürme der Nachkriegsliteratur galten, ist er in dieser historischen Rolle nicht stehengeblieben, sondern war immer ganz gegenwärtig und von heute.

Einen derart heiteren Aufklärer, der unprätentiöse Überlegenheitsgesten mit koketter Bescheidenheit verband, wird es, nicht nur in der deutschen Literatur, so schnell kein zweites Mal geben. Hans Magnus Enzensberger war eine solche Berühmtheit im internationalen Geistesleben, dass seine Aktivitäten, Äußerungen, seine Stellung im Literaturbetrieb bereits zu Lebzeiten ins Mythische entrückt schienen. Schon sein Name hatte die Wirkung eines Fanfarenstoßes: Enzensberger!

Hans Magnus Enzensberger wurde absichtslos zur Legende

Das war: der weltweit „vernetzte“ Kosmopolit und Global Player des Geistes, der in Norwegen, Berlin, Rom, USA und schließlich jahrzehntelang in München lebte; der Herausgeber der „Anderen Bibliothek“ oder legendärer Zeitschriften wie „Kursbuch“ und „Transatlantik“; die vermeintliche Leitfigur der Studentenrevolte anno ‘68, von der er sich indes bald distanzierte; der einstige Erntehelfer in Castros Kuba, der 2003 doch Amerikas Irakkrieg guthieß – und so fort.

Aber so richtig all diese biografischen Details sind: Jetzt, im Rückblick, wirken sie fast wie Puzzlesteine einer absichtslosen Legendenbildung, so als sei Hans Magnus Enzensberger eine Figur, die er selbst erfunden hat. Nicht weil „HME“ ein kalkuliertes Image, eine „Marke“ gewesen wäre, sondern weil diesem Autor ganz beiläufig etwas gelang oder vielmehr „geschah“, was man selten, aber doch immer wieder bei Geistesgrößen beobachten kann: Ihr Leben wird ungewollt selbst zu einer Art Kunstwerk, weil es in seiner spezifischen, herausragenden Gestalt exemplarische Züge annimmt. Gerade dort, wo es so individuell von der Durchschnittsexistenz abweicht.

Enzensbergers „Verteidigung der Wölfe“ war ein Skandal

Geboren 1929 als Sohn eines Postbeamten in Kaufbeuren, wuchs Hans Magnus Enzensberger in Nürnberg auf. Fernab der Mikrofone klang das noch durch, wenn er einem ein fröhliches „Adee“ zurief. Dass er bereits aus der Hitlerjugend wegen Renitenz rausgeworfen wurde, zeigt, wie früh seine Neigung zum Widerspruch und zu individualistischer Distanz ausgeprägt war – aber auch sein Mut (besser: Mut zur Angst) und seine Klugheit. Denn als man den Gymnasiasten am Kriegsende noch zum „Volkssturm“ einzog, schlug er sich lieber in die Büsche, statt sich heldisch verheizen zu lassen.

Dementsprechend nonkonformistisch in Form wie Inhalt war auch der aufsehenerregende Start seiner steilen Schriftstellerkarriere: Der Durchbruch gelang ihm mit seinem ersten Gedichtband „Verteidigung der Wölfe“ – ein immer noch faszinierendes Buch, das bei seinem Erscheinen 1957 als skandalös empfunden wurde. In der Rolle des „zornigen jungen Mannes“ fuhr der Autor darin nämlich allen Arbeitern und Angestellten ganz arrogant an den Karren, wenn er ihnen zurief: „ihr,/einladend zur vergewaltigung,/werft euch aufs faule bett/des gehorsams, winselnd noch/lügt ihr, zerrissen/wollt ihr werden, ihr/ändert die welt nicht.“

Auch am „Spiegel“ übte Enzensberger Kritik

So verband der Dichter beißende Kapitalismuskritik mit einer Absage an jede idealistische Verklärung des „Proletariats“. Der internationale Ruhm dieses Vor- und Meisterdenkers gründete sich aber vor allem auf seine Essays – Texte, die gerade im Frühwerk Einflüsse der Frankfurter Schule um Adorno erkennen lassen. Als Essayist hat Enzensberger von der Migration bis zur Medienkritik nicht nur Aktuelles aufgegriffen, sondern oft erst ins Spiel gebracht. So als er 1970 dem Fernsehen attestierte, es steuere das Bewusstsein der Massen. Oder bereits 1957 mit einem Aufsatz im „Spiegel“, wo er den Sprachstil eben dieses Nachrichtenmagazins sezierte und als verkappten Revolverblatt-Journalismus erkannte, der unter der Tarnung „kritischer“ Posen nur die herrschende Ideologie verbreitet.

Wer gängige Klischeevorstellungen so hellsichtig demontiert, für den gilt notwendig Brechts Diktum „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“. Für Parteigängereien und starre „Meinungen“ war Enzensberger viel zu klug und beweglich. Und Beweglichkeit im Wortsinne ist es auch, was den bedeutendsten Teil seines Schaffens prägt, das, was als Spur von seinen „Erdentagen nicht in Äonen untergehen“ wird: seine Lyrik.

Hans Magnus Enzensbergers Lyrik fasziniert bis heute

Enzensbergers Gedichte faszinieren durch das sanfte Schaukeln der Sätze, jenen aufgeweckten, aber doch manchmal wohlig einlullenden Sound der Dialektik, der im Pendelschlag der Verse die Bewegung des Denkens nachzeichnet. In dieser Dichtung prallt der Durchblicker-Tonfall des Einser-Abiturienten auf die zarte Melancholie, mit der etwa „die Schnee-/flocke auf dem flaumigen Arm einer Frau“ besungen wird.

In der lyrischen Verschränkung von Übertrumpfungs-Attitüde und Verletzlichkeits-Konfession inszenierte dieser Autor das Drama der Aufrichtigkeit in der kalten Welt der Konkurrenz. Darum sprechen seine Gedichte immer ganz unmittelbar von uns, selbst wo sie bloß von Luft und Wolken handeln. Am Donnerstag ist Hans Magnus Enzensberger im Alter von 93 Jahren gestorben.



Quellenlink https://www.tz.de/muenchen/kultur/zum-tod-von-hans-magnus-enzensberger-ein-leben-als-kunstwerk-zr-91938244.html?cmp=defrss