Streikwelle in Großbritannien: Soldaten sollen Krankenwagen fahren – Politik


Blickt man in den Kalender, gibt es in Großbritannien bis zum Jahresende nur einen Tag, an dem keine Streiks angekündigt sind. An allen anderen Tagen wollen Menschen in den Arbeitskampf ziehen. Es sind Grenzschützer und Busfahrerinnen, Krankenschwestern und Pfleger, Postboten und Feuerwehrleute, Lehrerinnen und Bahnangestellte. Sie alle fordern höhere Löhne, weil das Leben immer teurer wird, die Inflationsrate liegt schon jetzt bei gut elf Prozent.

Wie es aussieht, steht das Vereinigte Königreich vor der größten Streikwelle seit 1989. Damals hatte das Land mit Margaret Thatcher eine Premierministerin, die für die Anliegen der Arbeitnehmerschaft wenig übrig hatte. Nun regiert wieder ein konservativer Premier in 10 Downing Street, und wenn nicht alles täuscht, versucht Rishi Sunak, sich ein Beispiel an der Eisernen Lady zu nehmen. Im Parlament drohte er jedenfalls in dieser Woche damit, das Streikrecht einzuschränken, sollten sich die Gewerkschaften weiterhin “unvernünftig” verhalten. Die Regierung arbeite an “neuen, harten Gesetzen, um die Menschen vor diesen Störungen zu schützen”, sagte Sunak.

Die Regierung arbeitet an Notfallplänen

Unter “Störungen” versteht der Premier die Auswirkungen von Streiks, wie es sie bei Post und Bahn schon seit Monaten gibt. Die Bediensteten fordern deutlich mehr Lohn – und zwar im Einklang mit der Inflation. Doch weder bei der Bahn noch bei der Royal Mail gibt es bislang eine Einigung. Erst kürzlich lehnte etwa die Bahngewerkschaft RMT ein Angebot der Arbeitgeber ab, das für zwei Jahre jeweils vier Prozent mehr Lohn vorsah. Sie rief ihre Mitglieder für die kommende Woche zu zwei 48-stündigen Streiks auf und kündigte obendrein einen längeren Ausstand über die Weihnachtstage an.

Mick Lynch, der Generalsekretär der Gewerkschaft RMT, gab sich gegenüber der BBC streitlustig, aber auch ein wenig zerknirscht: “Wir wollen nicht, dass das über Weihnachten passiert.” Die Gewerkschaft habe jedoch keine Wahl. Man hoffe noch darauf, dass die Arbeitgeber ein besseres Angebot vorlegen und man den Streik absagen könne, sagte Lynch. Viel Hoffnung scheint er allerdings nicht zu haben.

Streiks im Vereinigten Königreich: Auch in Schottland ist der Ruf nach höheren Löhnen laut: Mitglieder der Lehrergewerkschaft Educational Institute of Scotland in Edinburgh.

Auch in Schottland ist der Ruf nach höheren Löhnen laut: Mitglieder der Lehrergewerkschaft Educational Institute of Scotland in Edinburgh.

(Foto: Russell Cheyne/Reuters)

Die Bahnangestellten sind mit ihren Forderungen nicht allein. Am 15. und 20. Dezember wollen erstmals die Beschäftigten des chronisch unterfinanzierten staatlichen Gesundheitsdienstes National Health Service (NHS) für höhere Löhne streiken. Auch die Rettungswagenfahrer haben angekündigt, die Arbeit rund um Weihnachten niederzulegen. Um die Auswirkungen zumindest einigermaßen in den Griff zu bekommen, arbeitet die Regierung an Notfallplänen. Geht es nach dem Gesundheitsministerium, sollen etwa Soldaten eingesetzt werden, um Rettungswagen zu fahren.

Nicht nur im Gesundheitswesen soll die britische Armee helfen. So hat das Verteidigungsministerium bereits einer Bitte des Innenministeriums entsprochen, um eine weitere drohende Streikwelle abzufedern: 600 Soldaten werden die Border Force unterstützen, weil auch Grenzschützer an mehreren Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr die Arbeit niederlegen wollen. An mehreren Flughäfen dürfte es deshalb zu längeren Schlangen bei der Einreise nach Großbritannien kommen. Damit diese nicht allzu lang werden, könnte laut Times sogar ein Drittel aller Flüge an den betroffenen Tagen gestrichen werden.

Reisen in der Weihnachtszeit könnten schwierig werden

Die Gewerkschaft PCS kündigte jedenfalls an, dass Grenzschützer an den Londoner Airports Heathrow und Gatwick sowie den Flughäfen Manchester, Birmingham und Cardiff streiken werden. Es handele sich um etwa 1000 Beschäftigte, die für die Passkontrollen zuständig seien. Laut PCS-Generalsekretär Mark Serwotka bietet die Regierung nur zwei Prozent mehr Lohn. Er zeigte sich über die Verhandler des Innenministeriums ziemlich enttäuscht: “Sie sagen, ihre Tür stehe offen, aber es handelt sich um eine sehr merkwürdige Tür, denn es ist nichts dahinter.” Fest steht bislang nur: Gelingt keine Einigung, werden viele Menschen ihre Reisepläne rund um Weihnachten ändern müssen.

Das Verständnis für die Streikwelle fällt in der Bevölkerung je nach Branche unterschiedlich aus. Laut Umfragen des Meinungsforschungsinstituts YouGov unterstützen die Britinnen und Briten mehrheitlich die Streiks von Krankenschwestern und Pflegern, von Lehrern und Feuerwehrleuten. Dass hingegen Ärzte und Polizeibeamte die Arbeit niederlegen, stößt auf weitaus weniger Zustimmung.

Im politischen Betrieb in Westminster muss sich Premierminister Sunak vor allem Kritik von der Labour Party gefallen lassen. Deren stellvertretende Vorsitzende Angela Rayner warf der Regierung vor, sich nicht um die Reallohnverluste der Arbeitnehmerschaft zu kümmern: “Dies ist eine militante Regierung, die sich nicht mit diesen Themen auseinandersetzt und die Streikursachen nicht löst, und das ist frustrierend.”

Während Labour versucht, für die Wut der working class die Regierung verantwortlich zu machen, steht Premier Sunak vor einem ganz praktischen Problem. Nachdem er dem Land gleich zu Beginn seiner Amtszeit einen strikten Sparkurs verordnet hat, fehlt schlichtweg das Geld, um etwa die Löhne von Krankenschwestern und Pflegern im Gesundheitsdienst NHS deutlich zu erhöhen. In Westminster heißt es jedenfalls, die Staatskasse sei so gut wie leer.



Quellenlink https://www.sueddeutsche.de/politik/grossbritannien-streikwelle-1.5711897