München: „ ,Vögel´ ist weit davon entfernt, antisemitisch zu sein“ – München


Als historische Fachberaterin für das Stück “Vögel” von Wajdi Mouawad musste ich mit Bestürzung zur Kenntnis nehmen, dass das Münchner Metropol-Theater weitere Aufführungen abgesagt hat, nachdem sich mehrere jüdische Studierende darüber beschwert hatten, dass das Stück antisemitisch sei.

Ich war von Anfang an mit Engagement und Herzblut an der Entstehung dieses Stücks beteiligt: Von der Verfassung des Drehbuchs in Zusammenarbeit mit Wajdi bis hin zu den Proben und den ersten Aufführungen in Frankreich und in Kanada. Ich entstamme einer alten jüdischen Familie aschkenasischer Herkunft; mein Urgroßvater ist tatsächlich auf dem Ölberg begraben. Ich habe an der Hebräischen Universität in Jerusalem und an der Bir Zeit Universität in Ramallah gelehrt. Ich habe zahlreiche Publikationen zur jüdischen Geschichte veröffentlicht, darunter mehrere Bücher, die auch ins Deutsche übersetzt wurden und sich in Deutschland einer großen Leserschaft erfreuen. Ich darf zu Recht für mich behaupten, dass ich bis jetzt mein gesamtes Leben damit verbracht habe, gegen den Antisemitismus zu kämpfen.

Wajdi wurde selbst als maronitischer Christ in seinem Heimatland Libanon verfolgt; er hat viele nahe jüdische Verwandte und viele jüdische Mitarbeiter. In seinem Theaterstück “Verbrennungen hat er über die Verfolgung geschrieben.

Bei der ersten Aufführung von “Vögel” anlässlich des Stratford International Shakespeare Festivals in Kanada im Jahre 2018 traten sowohl jüdische (einschließlich israelische) als auch arabische Schauspieler auf. Während der Proben wurde viel über den Text diskutiert, und es standen auch Revisionen im Raum. Niemand empfand den Text als antisemitisch. Das Stück erhielt positive Kritiken in Kanada, Paris und Israel, wo es im renommierten Cameri Theater aufgeführt wurde.

Angeblich ist das Stück eine “Relativierung des Holocausts”

Als internationaler Beobachter muss man sich schon fragen, was wohl in Deutschland vor sich geht, wenn ein Stück, das überall sowohl vom jüdischen als auch vom nichtjüdischen Publikum so hochgelobt wurde, nun in München als antisemitisch abgesetzt wird.

Ich möchte deshalb auf einige der Vorwürfe konkret eingehen. Angeblich ist das Stück eine “Relativierung des Holocausts”. Dieser Vorwurf bezieht sich insbesondere auf die Äußerungen des Helden Eitan, eines jüdischen Doktoranden der Genetik, der mit seinen Eltern und seinem Großvater darüber spricht, was jüdische Identität und jüdische Werte ausmacht, während er gleichzeitig für sein Recht plädiert, eine nichtjüdische Frau zu heiraten. Die jüdische kulturelle Identität wird nicht über die Gene weitergegeben. “Wenn es so wäre”, sagt Eitan, “glauben Sie denn, unser Volk würde einem anderen [Volk] die gleiche Unterdrückung zumuten, die es selbst erdulden musste?” Die studentischen Kritiker fragen nun: Wie kann das Stück es wagen, das Ausmaß des jüdischen Leidens im Holocaust mit dem Verhalten der Israelis gegenüber den Palästinensern zu vergleichen!

Das Stück will aber keinen Größenvergleich über das Leid anstellen, sondern befasst sich mit einer Frage, die sich so mancher Jude mit Sicherheit auch schon gestellt hat. Ich habe diese Frage selbst schon in der Vergangenheit von betagten Holocaust-Überlebenden in Israel gehört, und ich stelle sie mir jedes Mal selbst, wenn ich aktuelle Bilder von israelischen Siedlern sehe, die Palästinenser steinigen, während diese ihre Oliven pflücken. Ich erinnere mich an sehr einprägsame Bilder aus meiner Kindheit von deutschen Nazis, wie sie Juden steinigen. Wie kann mein Volk nur so etwas tun, habe ich mich damals in meiner ganzen Naivität gefragt.

Glauben die Studierenden denn wirklich, dass es keine jüdischen Rassisten gibt?

Die Kritiker von “Vögel” greifen aber auch die Darstellung von David und Etgar, dem Vater und Großvater von Eitan, an. David, so die Kritiker, werde als extremer Rassist dargestellt, wodurch auch seine jüdischen Brüder in den Schmutz gezogen würden. Glauben die Studierenden denn wirklich, dass es keine jüdischen Rassisten gibt? Haben sie denn noch nie etwas über die jüngsten Wahlen in Israel gelesen?

Es stimmt wohl, dass David, der verzweifelt versucht, die Heirat seines Sohnes mit der schönen Palästinenserin Wahida zu verhindern, den Charakter der Araber übermäßig angreift. Dies wird jedoch bald relativiert durch die Entdeckung, dass er selbst arabischer Abstammung ist, und durch seine Dankbarkeit für Wahidas aufopferungsvolle Pflege in den letzten Stunden seines Lebens.

Es stimmt ebenfalls, dass Etgar sich als einen Mann darstellt, der ein nichtjüdisches Kind “gestohlen” hat. Dies ist jedoch keine antisemitische Floskel, wenn wir uns näher mit den Umständen auseinandersetzen. Als Soldat der israelischen Armee war Etgar in ein palästinensisches Dorf eingedrungen, aus dem die Bewohner geflohen waren, und fand dort einen weinenden Säugling vor, der zu seinem Schutz in einem Schuhkarton versteckt war. Er nimmt das Kind an sich und ist von dem süßen Gesicht und dem Lächeln des Babys bezaubert. Anstatt ihn den Behörden zu übergeben, bringt Etgar ihn zu seiner kinderlosen Frau, die ihn als ihren jüdischen Sohn David aufzieht. Am Ende des Stücks erfährt David die Wahrheit über seine Vergangenheit, aber in seinen letzten tragischen Momenten akzeptiert er die Dualität seiner Herkunft.

“Vögel” ist weit davon entfernt, antisemitisch zu sein und plädiert für Toleranz und kulturelles Verständnis, wie Lessings “Nathan der Weise”. Die Botschaft unseres Stücks greift die Botschaft von Wazzan in dessen letzter Rede auf: Die Bedeutung der Akzeptanz von Menschen, die anders sind als wir selbst, die Offenheit für den anderen, “der Freund seines Feindes zu werden” (um eine für Wajdi Mouawad wichtige Zeile zu zitieren). Die Botschaft entspricht auch der letzten Textzeile von Eitan am Ende einer tragischen Szene, nämlich, dass er untröstlich bleibt, solange seine Vorfahren verfeindet sind. David stirbt im Kreise seiner gemischten jüdischen und arabischen Familie und nimmt den Rat einer längst verstorbenen historischen Figur aus der muslimischen Geschichte entgegen. Am Ende des Stücks begräbt Eitan ihn mit dem sehnlichen Wunsch nach einer Welt, in der Juden und Araber gemeinsam in Frieden leben können.

Wenn diese Botschaften im heutigen Deutschland nicht salonfähig sind, dann müssen sich internationale Beobachter wie ich wohl fragen, welche Art von Ideen dort noch genehm sind.

Wie den deutschen Medien bekannt sein dürfte, ist die weltweite jüdische Gemeinschaft in ihren politischen Ansichten über den Zionismus und den Charakter des Staates Israel gespalten. Alle meine israelischen Freunde, die sehr zahlreich sind und unter denen sich viele ehemalige Doktoranden befinden, teilen meine Ansicht über den Wunsch nach einem demokratischen und rechtmäßigen Gemeinwesen. Die jüdischen Kritiker von Wajdi Mouawads Stück sind, wie man aus ihren Äußerungen schließen kann, anders eingestellt: Sie scheinen eine restriktive, ängstliche und herzlose Auffassung davon zu haben, was es bedeutet, Jude zu sein.

Ich fordere Jochen Schölch deshalb eindringlich auf, die Aufführung von “Vögel” wieder aufzunehmen.

Die Autorin ist eine kanadisch-amerikanische Historikerin und Kulturwissenschaftlerin jüdischer Herkunft. Die 94-Jährige ist Emeritierte Professorin für Geschichte, Universität Princeton, und Außerordentliche Professorin für Geschichte an der Universität Toronto .



Quellenlink https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-metropoltheater-voegel-natalie-zemon-davies-1.5701082